Bildungsmarkt vor der digitalen Disruption

Disruption der Hochschulen durch Digitalisierung? Ja. Wann? Offen. Wie? So!

Von Thomas Becker

Digitalisierung lässt sich generell auf drei Ebenen beschreiben:

  • als Übertragung (Konversion) analoger Inhalte in digitale Form
  • als Anpassung (Adaption) der Gesellschaft an diese digitalisierte Umwelt
  • als Veränderung (Transformation) von Angeboten durch die Möglichkeiten der digitalen Infrastruktur

Dieser Dreiklang gilt auch im tertiären Bildungsbereich und kann als Struktur dienen, um verschiedene Aspekte darzustellen, die in der Digitalisierung der Lehre bereits stattgefunden haben und die aufgrund von Erfahrungen aus anderen Branchen für die Zukunft zu erwarten sind.

Spoiler: Was passieren wird, ist eigentlich klar. Offen ist nur wann und durch wen.

Eingebettet ist die Digitalisierung im Bildungssektor in einen davon unabhängigen Paradigmenwechsel, der das Verständnis der Lehre selbst betrifft: from teaching to learning (1). „Eine solche Lehr- und Lernkultur kann sich nur in einem kombinierten Ansatz aus Akteurskooperation und Innovationsorientierung – top down und bottom up – entwickeln“, wie es der Stifterverband in der Charta guter Lehre formuliert(2).

In diesem Kontext lässt sich die Digitalisierung der Lehre so beschreiben:

Konversion (Umwandlung analoger in digitale Ressourcen)

Die Digitalisierung des Lehrmaterials und die Nutzung digitaler Formen in der Lehrer-Lerner-Beziehung sind weit fortgeschritten und zumindest an Fachhochschulen weitgehend Alltag:

  • Primäres Unterrichtsmaterial, in der Regel also selbst erstellte Slide Decks und Skripte, digital bereitstellen (im eigenen Hochschulinformationssystem oder z.B. öffentlich verfügbar auf Diensten wie Slideshare oder Researchgate)
  • Nützliches Begleitmaterial und weiterführende Inhalte digital ergänzen, z.B. mit Links auf bestehende Video Tutorials oder MOOCs, Fachartikel oder Interviews, best practices oder Fallstudien
  • Direkte Kommunikation mit Studierenden digital ermöglichen über E-Mail, geschlossene Facebook- oder Insta-Gruppen und Messenger-Dienste wie WhatsApp

Adaption (Anpassung an die digitale Umwelt)

Im klassischen Sinne innovativ, nämlich als nutzenstiftendes Re-Arrangement bereits bestehender Ansätze, sind in den letzten Jahren neue Lehrkonzepte entwickelt worden. Sie werden unter dem Stichwort blended learning diskutiert, also als Mix aus analoger Präsenzlehre und digitalen E-Learning-Formaten(3). Ihr Einsatz resultiert dabei zentral aus dem Anspruch des constructive alignment (fein aufeinander abgestimmte Lernziele, Lernaktivitäten und Leistungskontrollen(4)).

  • Retrieval-based learning(5) gilt als effiziente Lernmethode. Durch dynamische Quizzes lassen sich z.B. Lernerfolge im Aufbau notwendigen Grundwissens steigern. Verwandte Stichworte hierzu sind Gamification und serious gaming
  • Im flipped classroom wird Wissensvermittlung individuell zu Hause erledigt, die „Hausaufgaben“ dagegen zusammen mit dem Lehrer an der Hochschule bearbeitet. Dies erfordert eine komplette Überarbeitung der Lehrinhalte, wie es etwa an reinen Fernhochschulen geschieht
  • Collaborative learning lässt sich dank Vernetzung kurs- und standortübergreifend realisieren

Transformation (Disruption durch Digitalisierung)

“Still, it’s a real good bet, the best is yet to come”

Frank Sinatra (Lyrics by Carolyn Leigh)

Mit guten Gründen kann man davon ausgehen, dass eine digitale Transformation der Hochschullehre bislang allerdings noch nicht stattgefunden hat, diese aber gleichwohl hoch wahrscheinlich ist.

Welche Art von disruptiver Transformation ist zu erwarten? Das lässt sich für einen prognostischen Ansatz einigermaßen klar beantworten, da wir in anderen Branchen genügend Beispiele haben, die alle erstaunlich parallel verlaufen. Hier die Zutatenliste für eine erfolgreiche Disruption:

24/7: Flexibility powered by technology

Was wir schon seit der ersten Dotcom-Bubble (und damit knapp 30 Jahren) wissen: Digitalisierung zerstört die gelernten Zeitstrukturen der analogen Welt. Öffnungszeiten (Banken, Einzelhandel etc.) und feste Angebotsschemata (Rundfunk, Musikalben etc.) sind die ersten Opfer der Disruption. Übertragen auf den Bildungsmarkt heißt das, man kann erwarten, das feste Semesterabläufe, Stundenpläne und Prüfungszeiträume sicherlich in dieser Form nicht zukunftsfähig sind. Das ist für die Organisation von Hochschulen in ihren regulatorischen Rahmenbedingungen eine große Herausforderung. Die Vorteile für die Nutzer von Bildungsangeboten aber sind so groß, dass es wohl nur eine Frage der Zeit ist, bis sich das in der Fläche ändern wird. Und übrigens: Flexibilisierung heißt nicht zwingend, alles digital zu machen. Bildung hat viel mit Kooperation und Erlebnissen zu tun und die können besonders intensiv in face-to-face Szenarien entstehen. Aber so wie bisher mit festen Stundenplänen und Frontalunterricht im Klassenzimmer wird es wohl nicht bleiben können.

Die CDE-Formel: Customer-centric, data-driven & easy to use

Einer der Erfolgshebel von Netflix ist die Option zum Bingewatching – also dem Durchschauen einer Serie in einem Zug. Spotify ist erfolgreich, weil es für eine Flat Fee Zugriff auf den gesamten Katalog von Musik bietet. Amazon ist durch die Einbindung von Third Party Vendors in ihrem Market Place zum größten Einzelhändler geworden. Eine kleine Anzahl fester (starrer) Produkte (im Hochschuljargon: Programme) bilden in der analogen Welt das Portfolio, was einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg hat. In der digitalen Welt ist ein definiertes Angebotsportfolio sekundär. Gemäß des Verständnisses einer Long Tail Nachfrage kurve gelten unter Netzwerkbedingungen zwei Imperative: Biete alles an – je mehr, desto besser. Und hilf dem Kunden, die richtige Option schnell und einfach zu finden. Das verträgt sich nicht mit festen „Modellen“, sondern erfordert eine fluide Angebotspolitik, die auf Grundlage von Daten den individuellen Lernerfolg bestmöglich unterstützt. Das bedeutet in der Konsequenz: Man braucht Know-how in der Datengewinnung und -auswertung und man braucht Partnerschaften, um das Richtige zur richtigen Zeit in der richtigen Weise auszuspielen. Und dann muss man das auch noch einfach und schlank anbieten. Das ist komplettes Neuland für Hochschulen!

Effizienz schlägt Effektivität

Der größte Erfolgshebel in bereits disruptierten Märkten ist schlicht und einfach die bessere Kostensituation. Wert (value) entsteht als Differenz von individuellem Nutzen (Benefit) abzüglich der individuellen Aufwände (Kosten). Je geringer die Kosten, desto höher der Wert – selbst wenn der grundsätzliche Benefit sich nicht ändert. Das ist der große Vorteil von Plattformen, die Käufer und Verkäufer zusammenbringen, wie wir das im Tourismus mit Playern wie Booking.com oder Airbnb sehen. Das ist der Erfolg der Algorithmen und Deep Learning Ansätze, die Suchmaschinen und Soziale Netzwerkangebote einsetzen. Hochschulbildung muss in diesem Sinne deutlich kostengünstiger werden, um in der Breite attraktiv zu sein. Dies kann durch Economies of scale (stärkere Nutzung fester, frei skalierbarer Bausteine), Economies of scope (Verwendung standardisierter Baugruppen, die in unterschiedlichen Angeboten eingesetzt werden) und Multi-sided markets (Plattformansatz, der Studierende = Ressourcen und Organisationen = Ressourceneinkäufer miteinander verbindet und dabei die Kosten auf beide Seiten verteilt) realisiert werden. Und dies kann durch smarte Softwarelösungen unterstützt werden, die nicht wie eine Bibliothek einen großen Katalog von Quellen anbieten, sondern dem Nutzer tatsächlich helfen, schneller zu den relevanten Punkten vorzustoßen.

Experience macht den Unterschied

Das klingt etwas befremdlich, aber in disruptierten Märkten haben am Ende die Kunden meist mehr Macht als zuvor. Das liegt daran, dass sie vernetzt sind und sehr schnell und mit hoher Glaubwürdigkeit Informationen teilen können. Wenn man erfolgreich eine Branche digital transformieren möchte, muss man daher durchgängig diesen sozialen Aspekt berücksichtigen und belastbare Ideen haben, wie man Zusammenarbeit und Erlebnisqualität so koordiniert und in Szene setzt, das Bildung nicht zu einer Commodity wird, sondern einen unverwechselbaren Leistungsanspruch einlöst. Eine Einschreibung erzeugt eine Kundenbeziehung. Diese aber ist nicht dauerhaft bindend. Daher darf nicht die Zahl der Immatrikulationen den Erfolg definieren, sondern die Höhe der Zufriedenheit bei der Exmatrikulation – und dem, was danach stattfindet im Sinne des Aufbaus einer Alumni Community, die lebenslanges Lernen und nutzbringende Kontakte zusammenbringt.

The winner takes it all

Bildung ist ein Gut, das sich in hohem Maße für Digitalisierung eignet, da es keine ortsgebundenen, physischen Aspekte bedarf. Bildung entsteht beim Kunden (den Studierenden) im Kopf und was Bildungsanbieter machen, ist Lernprozesse zu ermöglichen, zu unterstützen und zu überprüfen. Wenn man das flexibel, auf individuelle Anforderungen optimiert und mit hoher Erlebnisqualität mit bestmöglichen Kosten in einem Plattformansatz anbietet, führt das zu den bekannten Winner-Takes-All Effekten der vernetzten Ökonomie: Ein Marktteilnehmer setzt sich durch und setzt global oder zumindest international (überregional) die Maßstäbe. Diese Quasi-Monopolisierung ist der Netzwerklogik immanent. Die Frage ist: Wer setzt sich als erster durch? Jemand, der schon international ist wie Linkedin? Jemand, der eine Power Brand hat wie Harvard, Oxford oder die Hochschule St. Gallen? Oder jemand von außen, der Bildung neu denkt und innoviert?

Es bleibt spannend und man mag in Erinnerung an Marcel Reich-Ranicki mit Bertolt Brecht sprechen: „Wir (…) sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Bildnachweis: Von Patrick Robert Doyle [Lizenz] via Unsplash

Anmerkungen

(1) Vgl. Barr and Tagg (1995): 13
(2) Jorzik (2013): 12
(3) Vgl. Horn and Staker (2014)
(4) Vgl. Biggs (2011)
(5) Vgl. Karpicke (2012)

Quellen

Barr, Robert B., and John Tagg (1995): From teaching to learning – A new paradigm for undergraduate education, in: Change: The magazine of higher learning, Vol.6, No. 2, pp. 12-26.

Biggs, John B., and Catherine Tang (2011): Teaching for quality learning at university: What the student does (4th ed.), Maidenhead, New York: Open University Press.

Horn, Michael B., and Heather Staker (2014): Blended: using disruptive innovation to improve schools, San Francisco: Jossey-Bass.

Jorzik, Bettina (2013): Charta guter Lehre. Grundsätze und Leitlinien für eine bessere Lehrkultur, Essen: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V.

Karpicke, Jeffrey D. (2012): Retrieval-based learning: Active retrieval promotes meaningful learning, in: Current Directions in Psychological Science, Vol. 21, No. 3, pp. 157-163.

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