Von Thomas Becker
Professor für Medien und Kommunikation | Hochschule Fresenius
Macht, Wahrheit und Geld: Das sind unsere Themen heute und die narrative Klammer ist ein Mann, dessen Gesicht zu den am meisten gedruckten der Welt gehört: Benjamin Franklin, bekannt von der 100 Dollar Note. Was macht diesen Mann zu unserer „Storyline“? Ben Franklin wurde 1706 geboren und startete seine Karriere als Drucker – damals ein angesagtes New-Tech-Thema. Und Ben Franklin lernte nicht nur das Handwerk. Er gestaltete auch eigene Schriftarten. Und weil man fürs Drucken Inhalte braucht, begann Franklin selbst zu schreiben. Ihm verdanken wir viele Sinnsprüche – wie das bekannte „early to bed and early to rise makes a man healthy, wealthy and wise“. Aus dem Handwerker wurde ein Geschäftsmann – mit cleveren Ideen, pragmatischer Umsetzung und der notwendigen Portion Glück.
Zu Franklins Erfolgsfaktoren gehörte es, andere Geschäftsleute und die intellektuelle Elite zu Debattierclubs einzuladen – Netzwerken in einer frühen, aber sehr erfolgreichen Form. Und zu Franklins Erfolgsfaktoren gehörte auch: Nicht reden, sondern machen. So gründete er u.a. die erste Leihbibliothek Amerikas, die erste Freiwillige Feuerwehr u.a. mehr.
Innovationen entstehen aus Problemen
Mit 42 – das war damals ungefähr der obere Rand der durchschnittlichen Lebenserwartung – zog sich Franklin aus dem Geschäftsleben zurück und wurde – nicht Rentner, sondern Wissenschaftler! Fernab aller wissenschaftstheoretischen Konzepte, wurde Franklin Wissenschaftler, aus dem einfachen Grund, weil er Probleme lösen wollte. Er beschäftigte sich mit Konvektion (Wärmeströmung) und Konduktion (Wärmeleitung), um so einen deutlich effizienteren Holzofen zu entwickeln – der allerdings floppte. Dann stieg er in das neue Forschungsfeld der Elektrizität ein –Rocket Science!
Bei Laborversuchen stellte Franklin fest, dass in jedem abgeschlossenen System die Summe der vorhandenen elektrischen Ladungen konstant bleibt und nur ihren Aufenthaltsort verändert und somit positive oder negative Aufladung verursacht. Franklin veranschaulichte das Prinzip mit den Begriffen „plus“ und „minus“ – die wir ja bekanntlich heute noch gerne verwenden. Franklin schrieb dazu aber kein Buch und ging auf Konferenzen oder ähnliches. Er entdeckte vielmehr einen wichtigen Zusammenhang zwischen Elektrizität und einem tatsächlichen Problem – einer echten Herausforderung. Brände vernichteten seinerzeit oft Existenzen und viele Brände entstanden durch Blitzeinschlag. Franklin erkannte, dass Blitze elektrische Entladung sind und man diese in den Boden ableiten könne – der Blitzableiter war erfunden.
Weitere Erfindungen des Wissenschaftlers Ben Franklin sind u.a. die Zweistärkensehbrille, der flexible Blasenkatheter und die Glasharmonika – ein neues Instrument, für das sogar Mozart und Beethoven Werke komponierten. Franklin der Erfinder. Obwohl er Geschäftsmann war, ließ er keine seine Erfindungen patentieren, sondern wollte, dass die Ideen dem Gemeinwohl zugutekämen. Open Source im 18. Jahrhundert – Respekt!
Geschäftsmann, Wissenschaftler, Erfinder – als ob das nicht reichen würde, begab sich Franklin – nolens volens – auch noch ins politische Geschäft. Erst kommunal in seiner Heimatstadt Philadelphia, dann als Vertreter Pennsylvanias zur Vorbereitung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776, die er anschließend auch mit unterschrieb.
Damals war Krieg – wir erinnern uns: die 13 Gründungsstaaten der USA waren bis dato britische Kolonien und die Unabhängigkeitserklärung kam in London gar nicht gut an. Also schickte man Franklin nach Europa. Nicht nach England, das er von seinem früheren Unternehmertum kann, sondern nach Paris, wo das politische Gegengewicht zu England residiert. In Paris lebte Franklin – immerhin nun 70 Jahre alt – durchaus als Bonvivant – langes Ausschlafen, lange Damenbesuche und lange Abendessen inklusive. In einer spannenden Kombination aus Interesse an Energieeffizienz, Autorentätigkeit und persönlichem Lebensstil – entwickelte Franklin in einer satirisch gemeinten Schritt die Idee, das man früher aufstehen solle und das gehe nur, wenn die Uhren umgestellt würden – der Impuls zur Sommerzeit war geboren, wenn auch nicht ganz ernst gemeint.
Trotz allem verhandelte er aber auch erfolgreich, so dass Frankreich 1777 die USA als Nationalstaat anerkannte, was später (1783) zum Frieden von Paris führte: Die britische Krone akzeptierte die Vereinigten Staaten von Amerika. Franklin wurde Präsident von Pennsylvania und arbeitete 1787 – mit 81 Jahren – an der Verfassung der Vereinigten Staaten mit. Er hatte beim Verfassungskonvent das Schlusswort und befand: „Thus I consent, sir, to this Constitution because I expect no better, and because I am not sure that it is not the best.“
Volatile Zeiten verändern die Spielregeln
Benjamin Franklin: Unternehmer, Staatsmann, Wissenschaftler. Repräsentant von Wirtschaft, Macht und Wahrheit. Warum sollte das für uns interessant sein? Weil wir – wie auch Franklin – in einer Zeit des Umbruchs leben. Vor Franklin, vor dem 18. Jahrhundert, war die Welt recht einfach. Die Politik war durchgängig hierarchisch angelegt – monarchisch. Ganz oben entscheidet eine einzelne Person über Wohl und Wehe, über Krieg und Frieden, über Steuern und Gemeinwohl. Auch die Religion war zu dieser Zeit weitgehend ein für die Mehrheit der Menschen verbindliches pyramidales System mit dem Papst als Nachfolger des Apostels Petrus, dem Fels, auf dem die Kirche steht. Die Wissenschaft wurde im Sinne von König und Kirche als universelle Gelehrtheit verstanden, die den politischen oder religiösen Zielen dienen sollte. In der Wirtschaft war nicht der Markt, sondern der Mercator – der Kaufmann – das Paradigma. Eine Art Subsistenzwirtschaft 2.0, die die Einnahmen des Monarchen und seiner Lehensleute steigern sollte.
Diese Art von Gesellschaftsbildung bezeichnen wir als Stratifikation: Die Gesellschaft war geschichtet und wie man das von einem Schichtdessert kennt, tendieren Schichten dazu, recht klar voneinander abgegrenzt zu sein.
Mit dem 18. Jahrhundert setzten grundlegende Veränderungen ein. Die Macht – vorher monarchisch durch Könige repräsentiert und meist durch Blutslinien begründet – wird anders organisiert. Die Republik – eine alte Idee aus der Zeit der Antike und des Römischen Reichs – wird zum neuen Modell, verbunden mit der Teilung der Gewalten in Gesetzgebung, deren Durchsetzung und unabhängigen Überprüfung. Das Verfahren, mit dem über die Verteilung von Macht entschieden wird, sind Wahlen. Die Gesellschaft demokratisiert sich. Auf Basis von Eigentumsrechten und der Möglichkeit, frei Preise zu verhandeln, entwickelt sich der Marktmechanismus – ein dynamisches Verfahren, aufgrund von Nachfrage und Angebot den jeweils aktuellen Wert von Leistungen zu quantifizieren.
Marktwirtschaften und Nationalstaaten entstehen in einer Ko-Evolution, die Karl Polanyi als Great Transformation beschreibt. Und beide Entwicklungen werden massiv flankiert: Die Wissenschaft etabliert sich von den Interessen von Kirche und König. Vernunft und Evidenz dienen als neue Leitplanken und ermöglichen Fortschritt.
Diese Entwicklungsströme beschreiben wir als funktionale Differenzierung: Einzelne Funktionen, die gesellschaftlich – also das Zusammenleben betreffend – gelöst werden müssen, werden nicht mehr singulär bearbeitet – also durch Hierarchie mit einem universellen Leitanspruch– sondern pluralistisch durch Delegation (Spezialisierung) und Verhandlung (Ausgleich). Diese Entwicklung kennzeichnete insbesondere das 19. und das 20. Jahrhundert und wurde zu einem Paradigma.
Das Zeitalter der funktionalen Differenzierung
Gesellschaft ist eine evolutionäre Errungenschaft. Gesellschaft ist notwendig – das ist klar. Wir denken rein biologisch z.B. an die genetisch codierte Notwendigkeit, das Überleben der Art zu sichern, was bei Säugetieren mehr als ein einzelnes Individuum erfordert– also Sozialität, koordiniertes Verhalten. Aber Gesellschaft entsteht obwohl sie notwendig ist zufällig und nicht nach einem Masterplan. Die Zufälle, ähnlich der biologischen Mutationen, werden durch Viabilität – ihrem praktischen Erfolg – selektiert. In diesem Verständnis ist die funktionale Differenzierung eine zufällige Entwicklung, die erfolgreich ist und sich deshalb durchsetzt.
Was macht den Erfolg der funktionalen Differenzierung aus? Durch Differenzierung steigern wir die Komplexität des Systems und können gleichzeitig die Komplexität so reduzieren, dass sie handhabbar bleibt. Wie geht das? Durch Differenzierung in verschiedene Funktionsbereiche wie Politik, Wissenschaft und Erziehung lässt sich die Komplexität der gesamten Gesellschaft erhöhen, während gleichzeitig innerhalb der ausdifferenzierten Teilsystemen die Komplexität sinkt. Und dieser Prozess lässt sich wieder und wieder durchlaufen. Die Komplexität der Gesellschaft steigt. Die Komplexität innerhalb des ausdifferenzierten Systems sinkt, weil man sich nur noch um seinen engen Fokus kümmern muss und alles andere an entsprechend spezialisierte Teilsysteme weitergibt. Das ist ähnlich wie bei der biologischen Differenzierung, wo aus einer einzigen befruchteten Eizelle über Zellteilung der Körper entsteht mit seinen verschiedenen Organen und Zellstrukturen.
Funktionale Differenzierung ist also eine Erklärung, für das was in der Zeit Franklins seinen Anfang nahm und dann vor allem das 19. Und 20. Jahrhundert prägte. Es geht um Komplexität. Was ist Komplexität? Das Wort kommt aus dem Lateinischen und heißt miteinander (cum) verflechten (plectere). Was sich da verflechten soll, sind Elemente eines Systems.
Was ist ein System? Ein System ist nicht etwas in der Welt Gegebenes, etwas Seiendes wie in der Ontologie konzipiert, sondern ein Beobachterstandpunkt. Systeme sind die Gesamtheit der sie bildenden Elemente und werden durch einen Beobachter – also von außen – definiert. Ein System ist wie eine Brille, mit der wir etwas beobachten und erklären wollen.
Emergenz ermöglicht Evolution
Wenn wir über Komplexität eines Systems sprechen, sprechen wir über die Menge seiner Elemente und deren „Verflechtbarkeit“ zu neuen Eigenschaften oder Strukturen. Wir nennen das Emergenz. Emergente Eigenschaften lassen sich weder vollständig aus den Eigenschaften der Elemente (und unserer Kenntnis darüber) ableiten noch exakt vorhersagen. Emergenz ist damit das Gegenstück zu Determinismus: der Annahme, alles sei durch Vorbedingungen festgelegt, was in der Idee der Theory of Everything, der Weltformel mündet.
Emergenz ermöglicht Evolution – zum Positiven wie zum Negativen, wie wir gerade bei der Pandemie gesehen und gespürt haben. Emergenz erzeugt Evolution durch das Prinzip der Übersummativität – wir kennen das seit Aristoteles: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Durch höhere Komplexität erzeugen wir mehr Emergenz und mehr Emergenz heißt Beschleunigung der Evolution. Wir wollen also Komplexität wie auch Emergenz als grundsätzlich positiv werten, was man natürlich nicht teilen muss. Wenn man es aber positiv interpretiert, stellen sich zwei Fragen:
- Wie können wir die Komplexität im Ganzen steigern?
- Wie können wir parallel die Komplexität im Anwendungsfall so reduzieren, dass wir mit ihr umgehen können?
Komplexität ist die Menge der Elemente eines Systems und deren „Verflechtbarkeit“. Was steigert die Komplexität stärker: Die Menge der Elemente oder die Möglichkeiten der Verflechtung? Lassen Sie uns eine praktische Fragestellung dafür heranziehen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer willkürlich zusammengesetzten Gruppe von 36 Personen, zwei Personen am selben Kalendertag Geburtstag haben? Die Antwort kennt man, wenn man die Sendung mit der Maus schaut: Sie liegt bei rund 80%. Das lässt sich durch Wahrscheinlichkeitsrechnung einfach ermitteln. Doch warum ist das so? Weil wir nicht die einzelnen Elemente (36 Personen) mit den verfügbaren Ereignissen (Tagen) vergleichen, sondern die Elemente zu Pärchen arrangieren und dann in Bezug zu den Ereignissen setzen. Also nicht 36 Elemente zu 365 Ereignissen, sondern die Anzahl möglicher Paare zu den 365 Ereignissen. Wie viele paarweise Beziehungen sind zwischen 36 Personen möglich? Wir sehen, dass bei 36 Elementen 630 mögliche Beziehungen entstehen.
Verbindungsmöglichkeiten steigern die Komplexität stärker als die Anzahl der Elemente und das gilt insbesondere, wenn die Elemente nicht alle direkt – statisch – miteinander verbunden sind, sondern eine Infrastuktur diese Verbindungsmöglichkeiten bereitstellt und diese Möglichkeiten situativ – on demand – aktiviert werden, ähnlich wie im Nervensystem.
Diese Art Infrastruktur ist das, was wir als Internet kennen: Das Inter-Network, die Vernetzung bestehender Netzwerke durch eine universelle Konvention (dem Protokoll) und einem dezidierten Adressraum (der Domain), so dass alle angeschlossenen Terminal Devices – die Endgeräte – im Prinzip mit allen anderen angeschlossenen Terminal Devices in Kontakt treten können. Wir reden heute von 20-30 Milliarden solcher Terminal Devices – teilweise von Menschen bedient, der größere Teil heute schon als Artefakte, die mit anderen Artefakten kommunizieren – das Internet of Things.
Worüber kommunizieren die Geräte bzw. die Menschen mit diesen Geräten? Jetzt kommt neben der Hardware die Software ins Spiel, die wir hier verstehen können als inhaltliche Ressourcen, die man zur Anschlussfähigkeit von Kommunikation nutzen kann. Diese inhaltlichen Ressourcen werden durch verschiedene Anwendungen zugängig gemacht, wie Email oder File Transfer oder dem World Wide Web, der wohl mächtigsten IT-Anwendung. Niemand weiß wie viele inhaltlichen Ressourcen – also einzeln aufrufbare Webinhalte – es gibt. Nicht einmal Google. Die hatten 2016 (also schon vor geraumer Zeit) 130.000 Milliarden URLs indexiert, und das ist nur die Spitze des Eisbergs sein. Login bewehrte Ressourcen – wie bei vielen Social Network Services –, gesperrte Seiten und das gesamte Dark Net dürften in Summe deutlich größer sein als der bekannte Teil des Web.
Komplexität wird durch Verbindungsmöglichkeiten massiv gesteigert. Verbindungsmöglichkeiten werden durch Anschlussmöglichkeiten – also Inhalte, über die wir sprechen können – genutzt. Beides ist durch das Internet und die darauf arbeitenden Anwendungen massiv und nicht mehr trivial messbar gesteigert worden. Die Komplexität der Gesellschaft (die Menge der sozialen Elemente – und ihrer Verbindungsmöglichkeiten) ist in den letzten dreißig Jahren so massiv gestiegen, wie niemals in der Weltgeschichte zuvor. Und wie gehen wir mit dieser Hyperkomplexität um? Wir schauen Tiktok Clips, liken Insta Stories, bingewatchen Netflix, shoppen per 1 Click, sprechen mit Alexa, Siri und Google, finden uns dank Maps und daten per Swipe.
Wir können mit der massiv gestiegenen Komplexität ganz offensichtlich umgehen. Es gab niemals mehr Kombinationsmöglichkeiten, aus denen Emergenz und damit gesellschaftlicher Mehrwert entstehen konnte. Aber – und das ist meine zentrale Frage: Wie schaffen wir es, diese Komplexität zu handhaben? Nach wie vor durch funktionale Ausdifferenzierung as known as Spezialisierung?
The Age of Creativity
Meine Antwort darauf ist eine – zugegen recht gewagte, aber vielleicht auch anregende – Hypothese: Die funktionale Differenzierung als Paradigma der gesellschaftsimmanenten Komplexitätssteigerung kommt an ihr Ende. Wir erleben alle den Beginn einer neuen Zeit – und die führt uns wieder näher an die Zeit heran, in der Benjamin Franklin so elegant und scheinbar mühelos vom Handwerker zum Unternehmer zum Erfinder zum Politiker changierte wie heute Elon Musk seine Tätigkeitsschwerpunkte ändert – vom Internet-Gründer (Zip2) zum Fintech-Pionier (Paypal) zum Raketenwissenschaftler (SpaceX) zum Automobilmanager (Tesla) zum Infrastrukturinnovator (The Boring Company) zum Bewahrer der universellen Meinungsfreiheit (Twitter) und reichstem Menschen der Welt – alles in gerade mal 51 Lebensjahren.
Was ermöglicht diese Komplexitätsreduktion, wenn es nicht die funktionale Differenzierung der Gesellschaft selbst ist? Diesmal weniger eine These als ein Befund: Komplexität wird reduziert durch etwas, das wir alle kennen: Computer. Was ist ein Computer? Eine universelle Maschine, d.h. sie hat keinen speziellen Zweck, sondern kann alles bearbeiten, was sich schrittweise in simple Operationen – addieren, logisch verknüpfen oder trennen, vergleichen, springen – zerlegen lässt. Diese Anweisungen – die Programme – werden abgearbeitet und das Ergebnis – eine Zahl – prozessiert.
Computer sind also – ohne jede Einschränkung – dumm. Aber sie sind universell dumm, so wie ein weißes Blatt Papier universell dumm ist. So wie ein Blatt Papier ein Medium ist und erst durch seinen Formgeber – den Autor, Zeichner, Mathematiker etc. – eine Bedeutung erhält, so ist der Computer ein Medium, das durch Programmierung geformt wird und so ein neues Medium bereitstellt: z.B. eine Anwendung, die dann wiederum als Medium genutzt werden kann, um neue Formen – Arbeitsergebnisse, Kunst, Memes, Quatsch – zu produzieren.
Was passiert da? Wiederum eine Art funktionaler Differenzierung, diesmal aber nicht in gesellschaftliche Teilbereiche wie in den letzten 200 Jahren, sondern in technische Produktionsmittel, die die Differenzierung überwinden und uns Dinge ermöglichen, die vor 30 Jahren undenkbar waren wie z.B. individuelle Motive für T-Shirts gestalten, eigenständig Bücher setzen, Artefakte herstellen, Musik schaffen, eine gesellschaftliche Bewegung starten…
Der Mensch, mit immer weiter ausdifferenzierter Technik ausgestattet, kann erschaffen, kann kreativ sein, sich in wissenschaftliche, politische oder technologische Diskurse einbringen, Dinge zusammenführen und dadurch neues schaffen. Durch die Möglichkeit, auf das gespeicherte Wissen der Welt zuzugreifen, Verbindungen zu allem und jedem herzustellen, Ideen zu verfolgen, ohne diese in der analytischen Tiefe durchdringen zu müssen.
Computer: Universal Machine. Mensch: Individual Creator
Der Computer, the universal machine. Der Mensch, the indivual creator. Die Technik ermöglicht den Umgang mit nie gekannter Komplexität, weil wir Menschen nicht die Technik selbst bedienen und durchdringen müssen, sondern Anwendungslayer nutzen – User Interfaces, Applikationslogik, Vernetzung, Datenverwaltung. Um meine Hypothese aufzugreifen, dass die funktionale Differenzierung als Paradigma der gesellschaftsimmanenten Komplexitätssteigerung an ihr Ende komme, stellt sich die Frage: Was kommt denn dann? Und daran schließt meine zweite Hypothese an: Evolutionärer Erfolg – die gesellschaftliche Weiterentwicklung – wird ein neues Verständnis von Expertise hervorbringen: Wer Dinge zusammenbringt, fachliche Disziplinen überbrückt, Systemgrenzen hinter sich lässt, die Konsequenzen von Ideen multifunktional durchdenkt, Zusammenhänge herstellt, anstatt die Kunst der Analyse die Kunst der Synthese beherrscht, wird in den bekannten Kategorien – Macht, Geld, Gefolgschaft, Liebe etc. – Erfolg ernten. Eben ein bisschen mehr Franklin wagen.
Das können wir hier tun, in der Franklinstraße, und jungen Menschen mitgeben, dass Technik Möglichkeiten eröffnet, dass Zusammenhänge wichtiger sind als Details, das Maschinen alles können, nur nicht kreativ sein. Do the Franklin.
Dieser Text ist die Transkription meiner Inaugural-Vorlesung am 4. Mai 2022 an der Hochschule Fresenius in der Franklinstraße in Düsseldorf.