Digitale Reife braucht eine neue Form der Betriebswirtschaftslehre

Digitale Reife, oder: Warum es heute eine neue BWL braucht

Von Thomas Becker

„Wie wird Unternehmenskommunikation als Summe zielgerichteter Kommunikation einer Organisation im Sinne eines Erfolgspotentials in die strategische Planung integriert?“[1] Das war die Forschungsfrage, mit der ich mich in meiner Dissertation Ende der 1990er Jahre beschäftigte.

Es gab dazu auch ein klares Ergebnis, das sich aus der systemtheoretischen Analyse des Unternehmens und seiner Ziele ableitete. Ein System ist immer System in einer Umwelt und für ein Unternehmen – eine Wirtschaftsorganisation – lassen sich zumindest zwei zentrale Umweltbezüge beschreiben: Die funktionale Umwelt der Wirtschaft, die wir Markt nennen, und die letztlich die Zahlungsbereitschaft in Form von Preisen beobachtet[2]. Darüber hinaus gibt es aber für jedes System auch immer den Bezug zur übergeordneten, nicht-funktionalen Umwelt aller anderen gesellschaftlichen Bezugspunkte. Diese „Meta“-Umwelt nennen wir Öffentlichkeit und sie läuft bei allen Entscheidungen innerhalb der Organisation als Co-Referenz mit[3].

Aus den beiden Umweltbezügen entwickelte ich ein Modell der strategischen Unternehmenskommunikation[4], das sich über zwei Dimensionen und in vier Zielkomplexe entwickelt. Die Dimensionen sind Markt und Öffentlichkeit. Hinsichtlich des Markts geht es für das Unternehmen darum, Kunden zu gewinnen (Akquisition) und Kunden zu binden (Loyalität), um dadurch (ökonomische) Transaktionen zu ermöglichen. Hinsichtlich der Öffentlichkeit versucht das Unternehmen, seine Aktivitäten gegenüber Anspruchsgruppen zu rechtfertigen (approval; Zustimmung) und Wettbewerbsvorteile in relevanten gesellschaftlichen Gruppen aufzubauen (preference; Bevorzugung), um damit letztlich (gesellschaftliche) Akzeptanz sicherzustellen.

Aus diesen vier Zielkomplexen lässt sich über die beiden Dimensionen Markt und Öffentlichkeit ein belastbares Modell strategischer Unternehmenskommunikation darstellen, das letztlich zu vier Leitinstrumenten der Unternehmenskommunikation führt. Für die späten 1990er Jahre war das eine vergleichsweise neue Sicht, denn zu dieser Zeit wurde Unternehmenskommunikation im Regelfall gleichgesetzt mit massenmedial gestreuter Werbung ergänzt durch persönlichen Verkauf (in B2B-Branchen) bzw. Verkaufsförderung am POS (in B2C-Branchen).

Abb. 1: Modell strategischer Unternehmenskommunikation (vgl. Becker 1998)

Mit einem solchen solide hergeleiteten Modell, das sich im theoretischen Diskurs als sehr belastbar erwies, fühlte ich mich gut gewappnet für die betriebliche Praxis, die ich in der IT-Industrie startete. In der Praxis merkte ich schnell, dass mein schönes Modell nur wenig half, unternehmerischen Erfolg zu realisieren. Das hatte viele Gründe. Ich arbeitete im unternehmergeführten Mittelstand. Der Unternehmer verstand Werbung und dergleichen als „Gedöns“, das nur den Gewinn schmälere. Wir – die Kommunikationsprofis – sollten uns lieber darum kümmern, durch innovative Ideen kostenfrei Aufmerksamkeit zu erzielen. Das führte u.a. dazu, dass wir zwei unterschiedliche „Strategien“ anwandten: Zum einen frühzeitig neue Kommunikationsmöglichkeiten einzusetzen (angefangen von der Mailbox über BTX, das Web, E-Mail Marketing, WAP, Symbian Applications, Streaming Video etc.) und damit eine Art first mover advantage bei Innovatoren zu erzielen, die wiederum als influencer oder information broker einen positiven word-of-mouth effect einleiten. Zum anderen begannen wir, selbst Inhalte für unsere Kunden (Loyalität), potenzielle neue Kunden (Akquisition) und Journalisten (approval) zu entwickeln, die weit über die Produktwelt hinausgingen. Ein hochwertiges, redaktionelles Kundenmagazin mit verbreiteter Auflage von rund 1 Million Exemplaren, eigene Studien – teilweise in Zusammenarbeit mit Universität und Fraunhofer Institut –, Statistiken und Informationsgrafiken, Fachinhalte als Wikis, push news etc.

Im Nachhinein ließen sich alle diese Maßnahmen dem Modell zuordnen. Das Modell wurde aber nicht, oder nur am Rande, für die Planung solcher Maßnahmen herangezogen. Letzten Endes waren die Maßnahmen Resultat der Kreativität Einzelner oder der Teams und wurden erst ex post (im Falle des Nichterfolgs) mit Bezug auf die Literatur gerechtfertigt bzw. bei größeren Maßnahmen wurden „wissenschaftliche“ Argumente für die Begründung der Budgetentscheidung ex ante zitiert. Aber in der Praxis plante man nicht lehrbuchkonform, sondern mit hoch gekrempelten Ärmeln, berauscht von der Idee und gegebenenfalls ernüchtert von der Realität. Und vor allem getragen von einer Art self-fulfilling prophecy Welle: Weil etwas in der Vergangenheit ohne fundierte Planung gut funktioniert hat, wird es wohl in der Zukunft auch klappen – es sind ja dieselben Leute damit beschäftigt.

Diese Erfahrung der – ich will mal frei formulieren – betrieblichen Ignoranz ist keineswegs ein exklusives Moment des Mittelstands. Ich habe in vielen Kontakten mit Großunternehmen die selbe, nur besser durch Entscheidungsvorlagen, Zahlenmaterial und buzzwords „verbrämte“ Vorgehensweise erlebt.

Auf der anderen Seite lernte ich in der betrieblichen Praxis etwas sehr entscheidendes. Dass es eben anders als im Lehrbuch nicht nur um Rationalität geht, also rationale, bestmöglich fundierte Entscheidungen zu treffen. Sondern dass Erfolg wie auch Misserfolg letztlich das Ergebnis der Durchsetzung individueller Ideen ist – straight from the gut, wie es Managerlegende Jack Welch formulierte[5]. Und das führte mich, erst in der Praxis, später auch in der Theorie, zu der Überlegung, dass Unternehmenskommunikation im Sinne einer strategisch geplanten „Auftragskommunikation“ für die „gezielte Informationspolitik und Inszenierungsstrategien“[6], eigentlich ein falscher Begriff ist, um das zu adressieren, worum es geht, nämlich die „Instrumentalisierung von Medien und Kommunikation“ als „universell einsetzbare Führungstechnik“[7].

Das klingt erst mal gar nicht so sehr anders, ist in der Konsequenz aber ein völlig unterschiedlicher Ansatz, weshalb ich den ohnehin unscharfen Begriff Unternehmenskommunikation[8] zugunsten des Terminus Medienmanagement aufgegeben habe. „Medienmanagement ist die Nutzung von Medien und Kommunikation zur Erreichung der Ziele der Organisation. Dabei wird Medienmanagement sowohl als Führungsinstrument innerhalb der Organisation wie auch als Instrument im Marketing-Mix genutzt.“[9]

Die Sichtweise der Kommunikationspolitik als Teilaufgabe des Marketinginstrumentariums hat sich vom Modellansatz nicht geändert. Noch immer müssen wir Kunden finden und binden sowie öffentliche Anspruchsgruppen befrieden und begeistern. Aber neben dieser klassischen Form der Unternehmenskommunikation steht der Einsatz von Kommunikation innerhalb der Organisationen. Dieser Bereich ist m.E. nicht nur viel umfassender, weil alle und jedes betreffend. Er hat auch einen wesentlich höheren Erfolgsbeitrag; persönlich in Form von Status, Entlohnung und Verantwortung wie auch institutionell in Form einer besseren Performance im Markt.

„Aber das ist doch nicht neu“, mag man einwenden. Schließlich wird schon seit Jahrzehnten über interne Unternehmenskommunikation geschrieben und gesprochen. Darunter findet man in der Literatur zwei Themenkomplexe vereint: „Zum einen die innerbetriebliche Informationspolitik mit der Aufgabe der Bereitstellung arbeitsrelevanter Daten und Fakten, die die Mitarbeiter zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen (need to have, meistens organisiert durch die Personalabteilung in Abstimmung mit den einzelnen Fachabteilungen). Zum anderen die Mitarbeiterkommunikation mit der Aufgabe, die Mitarbeiter als relevante Anspruchsgruppe zu adressieren und entsprechende Nachrichten und Themen für dieses klar umrissene Publikum mit journalistischen Mitteln umzusetzen (nice to have, meistens organisiert durch die PR-Abteilung in Abstimmung mit der Geschäftsleitung).“[10]

Wenn ich von Kommunikation als Führungsinstrument spreche, meint das aber mehr. Auch dazu habe ich – gut 15 Jahre nach meiner Dissertation – ein Modell entwickelt[11]. Grundlegend sind zunächst wieder zwei Dimensionen: die organisatorische Struktur des Systems und der Umgang des Systems mit seiner Umweltkomplexität. Beide Dimensionen sind als bipolares Kontinuum zu verstehen. Die organisatorische Struktur pendelt zwischen den Polen Hierarchie und Kooperation, der Umgang mit Komplexität zwischen den Polen Stabilität und Flexibilität. Die vier Pole kann man wiederum instrumentell interpretieren und dann sprechen von

  • Delegation, die aus Hierarchie resultiert und Komplexität reduziert
  • Adaption, die aus Kooperation resultiert und Komplexität steigert
  • Redundanz, die aus Stabilität resultiert und Verlässlichkeit schafft
  • Emergenz, die aus Flexibilität resultiert und Innovation schafft

Abb. 2: Modell von Kommunikation als strategischem Führungsinstrument
innerhalb von Organisationen (vgl. Becker 2014)

Mit diesen vier Handlungsfeldern allein ist es aber nicht getan. Eine zweite Sichtweise muss die unterschiedlichen Systembezüge reflektieren, die immer parallel stattfinden: Interaktion zwischen Anwesenden, Organisation in Form von Entscheidungen und der sozialen Funktion des Systems, im Bereich der Wirtschaft also dem Umgang mit knappen Gütern. Kombiniert man beide Perspektiven, kommt man zu einem Raster mit zwölf Handlungsfeldern, in denen sehr unterschiedliche Anwendungen instrumentalisiert werden.

Tab. 1: Beispielanwendungen für Medienmanagement als Führungsinstrument in Unternehmen

Dieses Raster ist zwar auf den ersten Blick unübersichtlicher als die einfache Unterscheidung zwischen interner und externer Unternehmenskommunikation. Doch m.E. überwindet eben dieses etwas mehr an Komplexität die Trivialisierung von Kommunikation zu einer betriebswirtschaftlichen Spezialdisziplin (innerhalb der Absatzpolitik) bzw. zu einem Hygienefaktor innerhalb der betrieblichen Leistungserstellung. Kommunikation ist die zentrale Voraussetzung für Zusammenarbeit von Menschen, insoweit Kommunikation das Auslösen koordinierten Verhaltens zwischen getrennten Lebewesen meint[12]. Für diese Koordination nutzen Lebewesen Medien im Sinne von Mittlern, die den kommunikativen Erfolg erhöhen und damit die Leistungsfähigkeit von Kommunikation steigern. Was ich letztlich durch den Wechsel der Begrifflichkeiten weg von Unternehmenskommunikation hin zu Medienmanagement ausdrücken will, ist eben diese praktisch erfahrene und theoretisch begründbare Bedeutung von Kommunikation als dem zentralen Treiber für wirtschaftlichen Erfolg.

In der Konsequenz führt das zu einer durchaus gewagten Annahme im Kontext der digitalen Transformation, die im Ergebnis die Gesellschaft auf eine neue Entwicklungsstufe führt, die Manuel Castells[13] als Informationszeitalter beschreibt. Wenn wir akzeptieren, dass die Digitalisierung einen grundlegenden Wandel in der Art und Weise herbeiführt, wie wir als Gesellschaft funktionieren, muss man zugleich akzeptieren, dass die digitale Reife einer Organisation der zentrale Erfolgsfaktor für die zukünftige Entwicklung einer Organisation ist. Die digitale Reife einer Organisation wiederum lässt sich m.E. nur sinnvoll als Leistungsfähigkeit im Umgang mit Kommunikation konzipieren. Communications capabilities, die kommunikative Leistungsfähigkeit von Unternehmen in Interaktion, Organisation und Funktion und deren Instrumentalisierung für den value creation process in einer marktorientierten Unternehmensführung ist die Maßeinheit für die erreichten Grad der digital maturity.

Will man diese Perspektive verdichten, kann man auch plakativer formulieren: Medienmanagement ist der professionelle mit medial vermittelter Kommunikation. Medienmanagement ist die betriebliche Kernkompetenz für Unternehmen, die durch die digitale Transformation betroffen sind. Und das heißt im Umkehrschluss: Wer Unternehmen gründen, führen, entwickeln will, wer in Unternehmen oder als Freiberufler Karriere machen will, braucht heute weniger denn je eine produktions- und finanzorientierte Betriebswirtschaftslehre. Gebraucht wird heute nur noch ein schlanke kaufmännische Basis (Kostenrechnung, Bilanzierung, Kalkulation). Für Details gibt es Applikationen oder spezialisierte Dienstleister. Alles Weitere in Unternehmen (und in vielen anderen Organisationen wie etwa Parteien oder Non-Profits) ist vor allem Verständnis von und Können im Umgang mit Kommunikation. Wenn ich heute eine BWL 4.0 entwerfen sollte, eine angewandte Wirtschaftswissenschaft also, würde ich maximal ein Drittel des Curriculums für klassische ökonomische Grundfächer reservieren. Ein weiteres Drittel wäre für das später angestrebte Arbeitsfeld[14] reserviert und ein Drittel tatsächlich für die Ausbildung in Medienmanagement, um die communication capabilities der Unternehmen zu stärken und sie so fit für die digitale Transformation und die Netzwerkgesellschaft zu machen.

Bildnachweis: Von Luca Bravo [Lizenz] via Unsplash

Quellen

  • Becker, Thomas (1998): Die Sprache des Geldes. Grundlagen strategischer Unternehmenskommunikation, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
  • Becker, Thomas (2014): Medienmanagement und öffentliche Kommunikation. Der Einsatz vonMedien in Unternehmensführung und Marketing, Wiesbaden: Springer VS
  • Becker, Thomas (2016a): Interne Kommunikation. Ein Modell,viele Instrumente. Working Papers on Journalism & Business Communication, Vol 2, Berlin: Business and Information Technology School
  • Becker, Thomas (2016b): Digital Maturity and Communications Capability. Wie lässt sich die kommunikative Leistungsfähigkeit einer Organisation als Indikator der digitalen Reife bestimmen?, https://docbecker.blogspot.de/2016/05/digital-maturity-and-communications.html
  • Castells, Manuel (1996): The Rise of the Network Society, Malden: Blackwell
  • Welch, Jack und John A. Byrne (2001): Jack: Straight from the gut, New York: Warner Books
  • Zerfaß, Ansgar (2007): Unternehmenskommunikation und Kommunikationsmanagement: Grundlagen, Wertschöpfung, Integration, in: Manfred Piwinger und Ansgar Zerfaß: Handbuch Unternehmenskommunikation, Wiesbaden: Gabler, S. 21-70

[1] Becker 1998: 15
[2] Vgl. a.a.O.: 79ff.
[3] Vgl. a.a.O.: 155ff.
[4] Vgl. a.a.O.: 187ff.
[5] Vgl. Welch und Byrne 2001
[6] Vgl. Zerfaß 2007: 21f
[7] Becker 2014: 7
[8] Vgl. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/326741/unternehmenskommunikation-v7.html
[9] A.a.O.: 13
[10] Becker 2016a: 3
[11] Vgl. Becker 2014: 144ff.
[12] Vgl. a.a.O.: 136ff.
[13] Vgl. Castells 1996
[14] Darunter sind die drei Kernprozesse jedes Unternehmens gemeint: Ressourcenbeschaffung (und damit einhergehend Finanzierung, Investition, Personal etc.), Ressourceneinsatz (Prozessmanagement und Projektmanagement, Produktionsplanung) und die Wertsteigerung der Ressourcen für den erfolgreichen Absatz (sensu Marketing).

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