Lernen und Bildung sind zwei Konzepte, allerdings mit sehr unterschiedlichen Implikationen

Lernen und Bildung: Zwei Konzepte mit sehr verschiedener Bedeutung

Von Thomas Becker

Die hier dargelegten Gedanken sind ein Transkript der Begrüßungsrede zum Sommersemester 2023 im Fachbereich Wirtschaft und Medien der Hochschule Fresenius in Düsseldorf.

Welcome everybody at the Fresenius University here at our wonderful city campus in Dusseldorf.
This is a very special day. Not only for every single student here at the audimax but for the entire university. Matriculation – getting you on board of this great institution – as well as the graduation ceremony at the end of your time on the university are both very special events within the academic calendar. You may compare this freshmen ceremony and the graduation as christmas and easter in the world of a university. So again: We are all deeply thankful to have you here and give you a big hello.

You may wonder why I am talking in English. The reason is very simply. It’s respect. Respect for our international students that are maybe not so fluent in German. We really appreciate to be a place for people not only from Northrhine Westfalia but from all over the world. It’s great to have you here today and we wish you a rocking good start into your study life. Nevertheless, because the majority today is mothertongue German I will deliver my welcome speech in German.

I hope you don’t mind. But especially for you I spoiler the essence of my speech in just one sentence: What you do today, that’s one small step for man, one giant leap for mankind. You may remember, these are the famous words of Neil Armstrong when he put as the first person in history of mankind his feet onto the moon.

Das was sie heute tun ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit. Ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen?

Ich will versuchen, Ihnen zu erläutern was ich damit meine. Das tue ich mit einem Begriffspärchen, das auf den ersten Blick fast synonym erscheint, wo aber doch eine Spannung besteht. Es geht mir heute um Lernen und Bildung.

Wir haben ja heute einige Psychologen hier im Saal und die wissen natürlich was Lernen heißt: Ganz breit versteht man darunter den Erwerb von Wissen und Fertigkeiten. Wir lernen etwa als sehr, sehr kleine Kinder, wie man sich die Zähne putzt. Klingt trivial, ist aber Lernen, denn es ist kein intuitives Verhalten und es ist keine individuelle Erfahrung. Wir lernen, weil jemand anderes meint, das wäre wichtig für uns, wenn wir uns erfolgreich in dieser Gesellschaft behaupten wollen. So lernen wir Zähneputzen. Später lernen wir zu lesen, den Satz des Pythagoras, das Periodensystem und das Prinzip der Gewaltenteilung.

Warum lernen wir das? Weil andere meinen, das wäre wichtig für uns. Und ja, verstehen Sie mich nicht falsch. Zähneputzen ist wichtig, der Satz des Pythagoras auch. Aber worauf ich hinauswill: Die Entscheidung, was sie lernen sollen, treffen nicht sie – die treffen andere für sie. Und damit das auch gut funktioniert, verpflichten wir junge Menschen sogar dazu, zu lernen. Schule und das schulische Lernen sind Pflicht. Nicht bis zum Abi, das stimmt, aber doch wenigstens zehn Jahre. Wir –wir als Gesellschaft – verpflichten unsere Kinder und Jugendlichen dazu, gewisse Dinge zu lernen, weil wir davon ausgehen, dass sie nur so aktiv an Gesellschaft teilhaben können. Wenn sie nicht zur Schule gehen, kann die Polizei sie sogar einsammeln und zum Klassenzimmer geleiten.

Der römische Philosoph Seneca beklagte schon vor 2000 Jahren, dass die Jugend nicht mehr leistungsfähig sei und er diagnostizierte auch den Grund: Non vitae sed scholae discimus: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.

Lernen – der Erwerb von Wissen und Fertigkeiten – beginnt in einem nicht gerade guten Framing: Sie werden gezwungen, gewisses Wissen – Satz des Pythagoras – und gewisse Fertigkeiten – z.B. einen Handstand – zu erlernen.

Lernen kann man aber auch ohne Zwang – das wissen die meisten von Ihnen auch. Wenn Sie etwas wirklich interessiert, lernen sie ganz freiwillig, quasi automatisch. Wenn sie z.B. reiten möchten oder rappen oder kochen oder was auch immer, müssen sie auch viel lernen. Auch hier ist Lernen Erwerb von Wissen und Fertigkeiten. Aber hier kommt jetzt noch etwas Spannendes mit rein und das nennen wir Bildung.

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was Bildung heißt? Bilden heißt etwas erschaffen, etwas gestalten.
Die bildenden Künste sind die Künste, die ein Werk – einen Roman, einen Film, ein Graffiti – erschaffen. Wir bilden Teams, wir bilden Rücklagen, wir bilden unsere Persönlichkeit. Ja, Bildung hat etwas mit uns selbst zu tun. Bildung formt unsere Persönlichkeit. Bildung ist von der Grundidee des Wortes etwas Positives, denn es basiert auf Freiwilligkeit – auf unserem freien Willen, auf unserer freien Entscheidung.

Wir alle hier – die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Professorinnen und Professoren, das gesamte Team der Technik und Verwaltung, alle unsere vielen Lehrbeauftragten aus der Praxis – wir alle hier sind dankbar und stolz, dass Sie hier sind – weil das ihre freie Entscheidung ist. Es gibt keine Studienpflicht.
Niemand zwingt sie hierher. Sie haben sich entschieden, zu studieren. Warum? Dazu mag es verschiedene Motivationen geben, meist sehr einfache wie: Ich brauche den Abschluss damit ich meinen Wunschjob bekomme. Ok, manchmal ist das Leben simpel.

Aber ganz egal, was sie schlussendlich motiviert hat, getriggert hat sich für ein Studium zu entscheiden: Alle die hier sind haben damit – wissentlich oder auch nicht – ein Bekenntnis abgegeben, nämlich das Bekenntnis, dass sie sich selbst weiter gestalten wollen, dass sie ihre Persönlichkeit, ihr Leben weiter formen wollen, dass sich selbst bilden wollen.

Vergleichen Sie es mit Sport. Ein Bodybuilder formt seinen Körper. Ein Studierender ist in diesem Sinne ein Mindbuilder und formt seinen Geist und seine Persönlichkeit, weil er oder sie es so will.

Non scholae sed vitae discimus. Nicht für die Schule, nicht für die Universität oder ihren Professor lernen sie. Sie lernen für sich und für ihr eigenes Leben. Wenn wir diesen Punkt akzeptieren, können wir uns noch einmal zurückerinnern an mein Eröffnungszitat: that’s one small step for man, one giant leap for mankind.

Das, was sie gerade tun, fühlt sich vielleicht für sie wie ein kleiner Schritt an, weil ja viele studieren gehen.
Aber es ist ein großer Schritt für uns alle, die Gesellschaft, die Welt in der wir leben. Wenn Sie Bildung verstehen als das, was es ist – die freiwillige Entscheidung, Dinge tiefer und besser zu verstehen, um daraus richtiges Handeln abzuleiten – dann verstehen Sie auch was ich mit diesem „giant leap for mankind“ meine.

Die Welt, in der wir leben ist wahrscheinlich die beste Welt, die wir je hatten. Wir werden alt wie nie, wir sind reich wie nie, wir haben freie Zeit wie nie. Eigentlich ist alles perfekt …

… wäre da nicht die Realität, die uns mit Themen wie Krieg, Klimakrise, Inflation usw. zeigt, dass dieser Wohlstand und diese guten Zeiten äußerst fragil sind, dass sich alles vielleicht schneller und drastischer als man es vermuten kann verändert.

Das Einzige, was unsere Zukunft sichern kann, sind schlaue Köpfe. Schlau nicht Sinne von „viel Wissen“, sondern schlau im Sinne von „sinnvoll, nachhaltig, weitsichtig handeln“, schlau im Sinne von „nachfragen, hinterfragen, nicht alles leichtgläubig akzeptieren oder ebenso leichtgläubig leugnen“.

Die Welt braucht jeden Einzelnen von ihnen, weil die Herausforderungen zunehmen. Und diese Herausforderungen beschleunigen sich, sie werden unübersichtlicher, sie werden gefährlicher.

Für sie ist es heute vielleicht nur der Start eines Studiums – ein kleiner Schritt.

Für uns alle ist es die Hoffnung, dass sie die Fehler ihrer Vorgängergenerationen bereinigen, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen, dass sie unser aller Welt schützen. Das ist der Grund, warum es so wichtig ist, dass sie sich für Bildung entschieden haben. Das sie bereit sind, Zeit und Geld und Energie zu investieren. Das ist der große Schritt für die Menschheit.

Lassen Sie mich das noch einmal etwas veranschaulichen, indem ich einige individuelle Erfahrungen mit ihnen teile. Sie sind jetzt so rund 20, ich bin so rund 50. Als ich in ihrem Alter war, standen wir am Beginn einer großen gesellschaftlichen Veränderung: Die Computer hielten Einzug in unser Leben.

10 Jahre später, als ich 30 war, kam das nächste „big thing“: Internet und das World Wide Web. Alle wollten rein in dieses „Neuland“, weil es hier alles – wirklich alles! – kostenlos gab und man weder Öffnungszeiten noch andere Beschränkungen kannte.

Nochmal 10 Jahre später – mit 40 – wurde die Welt noch einmal grundlegend revolutioniert durch die Idee, Computer, Internet und Kommunikation miteinander zu verbinden und überall verfügbar zu machen: das Smartphone.

Heute, noch mal 10 Jahre später sehen wir die nächsten große Veränderungen anstehen. Drei Megathemen sind parallel am Start:

  • Eins heißt Web3. Da geht es um die tokenbasierte Dezentralisierung des World Wide Web. Nicht mehr ein riesiges Netzwerk, sondern transaktionsbasierte Communities ähnlich wie in dem social network Ansatz von Mastodon sollen die Zukunft darstellen NFT (non fungible tokens) und Blockchain sind hier bekannte Stichworte.
  • Ein anderes Megathema ist die Erweiterung und Virtualisierung der Welt in einen neuen Raum hinein, das Metaversum. Die Idee ist hier, digitale und reale Welt zusammenzubringen und durch immersive Technologien neue Erlebnisqualitäten zu schaffen.
  • Und dann – gerade in aller Munde durch ChatGPT, Bard und LLaMA – das Thema künstliche Intelligenz. Was heißt das? Nicht nur unser Verständnis von Wissen ist betroffen, sondern die gesamte Art, wie wir miteinander umgehen. Warum? Weil sich auf Basis von Transformertechnologien und neuronalen Netzwerken die Art und Weise ändern wird, wie wir mit dem World Wide Web umgehen. Weg von der visuellen Steuerung an einem Screen hin zu einer auditiven Dialogsteuerung. Und das hat massive Änderungen.

Globale Märkte und globale Krisen, nationale und imperiale Interessen, Technologie, Klima… Es gibt so viel zu tun. Es ist ein kleiner Schritt für jeden Einzelnen von Ihnen aber eine große Sache für uns alle, denn sie werden die Zukunft bauen.

Und sie werden gut vorbereitet sein, wenn sie akzeptieren, dass Bildung der Schlüssel zu gutem Handeln ist, dass sie sich freiwillig entschieden haben, ihren Geist und ihre Persönlichkeit zu bilden und sie demnach ihr Studierendenleben mit Respekt und Verantwortung gestalten sollten.

Studium heißt nicht Skript besorgen, auswendig lernen und Klausur bestehen. Das ist vielleicht Schule, aber nicht Universität.

Studium heißt wenn wir es wörtlich übersetzen „Eifer“, „Hingabe“ oder mit einem moderneren Wort „commitment“: die freiwillige Selbstverpflichtung, etwas in der Tiefe zu durchdringen.

Wenn Sie heute starten, nehmen Sie das bitte mit auf ihre Reise:

  • Es geht um Sie, nicht um uns.
  • Es geht um Bildung, nicht um Lernen.

Lernen ist nur Mittel zum Zweck. Es geht um die Bildung der Persönlichkeit – und das heißt, nicht Zeit im Seminarraum absitzen, sondern das Commitment, wirklich Dinge zu verstehen, zu reflektieren, kritisch abzuwägen, sich von niemandem – auch nicht den Professor:innen – etwas vormachen zu lassen.

Sie bauen unsere Zukunft, indem sie jetzt starten, ihre Persönlichkeit zu bilden. That’s one small step for man, one giant leap for mankind. In diesem Sinne: Willkommen und Danke, dass Sie sich für Bildung entschieden haben!

Bildnachweis: Von Aaron Burden [Lizenz] via Unsplash

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