„Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ Ich stand auf dem Spielplatz, trug wahrscheinlich eine Hose und ein blaues T-Shirt, weil ich Blau liebte und Kleider hasste und spielte mit einem Ball. Diese Frage hatte ich nicht zum ersten Mal gehört.
„Ein Mädchen“ habe ich immer geantwortet. Ich, so fünf bis sechs Jahre alt, mit Prinzenhaarschnitt, roten Pausbacken und Hummeln im Hintern, wusste ja schließlich, dass ich ein Mädchen war.
Obwohl ich die Frage seltsam fand, war ich niemals traurig oder wütend auf den Fragenden. Es war ein bisschen so, als würde mich jemand fragen, was mein Lieblingsessen sei, während ich genüsslich eine Pizza aß. Für mich ziemlich offensichtlich und harmlos, wenn jemand danach fragte. Auch meine Mutter fand es nicht schlimm, wenn ich misgendered wurde. „Das war mir egal, du warst ja süß. Man dachte ja nicht, dass du ein hässlicher Junge seist.“ Hauptsache nicht hässlich also.
Mit dem Alter wächst der Druck
Ich wurde älter und versuchte immer mehr, mich anzupassen. Ich trug hin und wieder ein Kleid, fing an, meine Beine zu rasieren und mich irgendwann zu schminken. Auch daran fand ich Gefallen. Trotzdem machte ich Abstriche. Ich erinnere mich noch genau an ein Erlebnis: Ich war dreizehn und auf Shoppingtour. Ich hatte Schuhe entdeckt, die ich haben wollte. Nachdem die Verkäuferin jedoch sagte, dass dies Schuhe für Jungs seien, wollte ich sie nicht mehr. Ich wollte keine dummen Kommentare in der Schule einstecken müssen.
Neulich fragte mich ein Freund, warum ich Männerdeo in meinem Bad stehen habe und schon wieder dieser kurze Stich von Unwohlsein. Die Antwort ist simpel: Ich finde, es riecht besser. Warum fühle ich mich also verunsichert, wenn mich jemand danach fragt?
Weil es nicht der Norm entspricht. Und der Fakt, dass jemand darauf aufmerksam wird, dass ich etwas tue, was nicht normativ für mein Geschlecht ist, mich abhebt und anders macht. Geschlechterrollen sind allgegenwärtig und beeinflussen jeden von uns.
„Gender“ und „Sex“
Wenn es um Geschlecht, Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität geht, werfen Menschen mit allen möglichen Begriffen um sich. Darum werde ich kurz einige Begriffe definieren.
Das biologische Geschlecht (englisch „sex“) beschreibt, mit welchen genetischen, hormonellen und anatomischen Merkmalen jemand geboren wurde. Je nachdem welchen Chromosomensatz, welches Mengenverhältnis der Geschlechtshormone und welche innere und äußere Genitalien ein Mensch hat, ist dieser Mensch biologisch männlich, weiblich oder intersexuell.
Das soziale Geschlecht (englisch „gender“) beschreibt, wie sich ein Mensch identifiziert. Diese Geschlechtsidentität kann vollkommen unabhängig vom biologischen Geschlecht bestehen.
An dieser Stelle komme ich zum Begriff „nicht-binär“ (englisch „non-binary“). Jemand kann sich nicht nur als Mann oder Frau fühlen, sondern auch irgendwo dazwischen, also genderqueer sein oder sich komplett von einer Geschlechtsidentität distanzieren, also agender sein. Von diesem Gesichtspunkt aus wird Geschlechtsidentität (Gender) als ein Spektrum gesehen. Auf der einen Seite steht eine männliche Selbstidentifikation, auf der anderen eine Weibliche. Die persönliche Einordnung auf diesem Spektrum ist jedem für sich überlassen und nicht aus dem biologischen Geschlecht bedingt.
Natürlich gibt es auch Menschen, die sagen, dass Gender, also Geschlechtsidentität, binär ist. Man sich also als Mann oder Frau fühlen muss, weil es nur diese beiden Geschlechter und damit auch Geschlechtsidentitäten gäbe. Doch warum sollte ich eine Aussage darüber treffen sollen und können, wie sich jemand anderes fühlt oder zu fühlen hat?
Was macht dich aus?
Wenn Gender nun ein Spektrum ist und auf der einen Seite eine männliche Identifikation und auf der anderen eine weibliche Identifikation steht, was sind dann überhaupt maskuline und feminine Attribute?
Der Großteil der deutschen Bevölkerung ist cisgender. Das heißt, sie sind mit einem biologisch männlichen oder weiblichen Körper geboren und identifizieren sich entsprechend ihren biologischen Merkmalen als Mann oder Frau. Auch ich zähle zu dieser Mehrheit. Und trotzdem benutze ich gerne Männerdeo, mochte früher keine Kleider und habe lieber Fußball gespielt als mir die Haare zu flechten. Was für eine Aussage trifft das nun über mich? Trifft es überhaupt eine?
Und was hat Sexualität mit Geschlechtsidentität zu tun? Ist ein Mann, der Eyeliner trägt, schwul? Mag er damit der ganzen Welt zeigen, wie homosexuell er ist? Und eine Frau in Boxershorts unter der Jeans datet nur andere Frauen?
Ich habe cisgender Menschen der Generation Y gefragt. Und das haben sie geantwortet.
Annika, 24: „Feminine Attribute sind, romantisch sein, nah am Wasser gebaut sein und sich sehr um sein Äußeres bemühen. Maskulin ist es, schnell aggressiv zu sein, impulsiv zu handeln und rational zu sein. An mir ist maskulin, dass mir mein Aussehen egal ist und dass ich mit Romantik nichts anfangen kann. Feminin, dass ich mich vor Spinnen ekle. Ist das überhaupt ein Attribut?“
Emma, 22: „Ich finde es weder komisch, wenn Männer sich schminken, noch wenn Frauen Männerklamotten tragen. Das ist eher eine Art Gruppenzugehörigkeit und Selbstdarstellung. Trage ich Boxershorts finde ich das bequem, benutze ich Männerdeo, mag ich den Duft. Trage ich Eyeliner bin ich vielleicht Künstler/Punk/Emo…“
Tobi, 22: „Wenn Männer Eyeliner oder Frauen Männerdeo benutzen, dann ist das schon seltsam. Mit solche Dingen trifft man eine Aussage, weil man sich atypisch verhält.“
Carolin, 21: „Ich bin so gerne ein Mädchen. Dann kann man sich immer hübsch machen. Ich habe oft das Problem, dass ich mich nicht wirklich weiblich fühle. Wenn ich zum Beispiel mit sehr weiblichen Freundinnen unterwegs bin, fühle ich mich schnell irgendwie männlich, fast wie ein Trampel.“
Joshua, 23: „Maskulin ist Bart tragen, zu viele Muskeln haben und grob sein. Feminin ist eher feinfühlig sein, sehr sensibel und gepflegt sein und Kleider tragen. Es ist wichtig als Mann auch feminine Ausprägungen zu haben. Wahrscheinlich sind feminine Männer auch bessere Gatten und Väter. Frauen, die Biss haben, können wie Löwen um ihr Wohl und ihre Liebsten kämpfen.“
Jamie, 20: „Ich kenne Leute, die sagen würden, dass Gender nicht real ist und Labels wie maskulin und feminin veraltet und auf Stereotypen beruhend sind. Aber ich glaube, dass es bestimmte Charakterzüge gibt, die man als maskulin oder feminin wahrnehmen kann. Ich sehe Gender als Spektrum und sehe mich selbst auf der femininen Seite, aber vielleicht etwas mehr in Richtung Mitte als andere selbst-identifizierende Frauen. Ich glaube auch, dass viele meiner femininen Züge – wie ich mich bewege und rede – antrainiert sind, weil ich früher nicht zu maskulin oder butch rüberkommen wollte. Das heißt ich habe Theater gespielt und Ballett getanzt.“
Amelie, 21: „Emotional zu sein gehört zu Frauen. Aber vielleicht liegt das auch nur daran, dass ich mit emotionalen Männern nicht so kann. Irgendwie empfinde ich die Typen dann als schwach. Schmuck tragen kann auch bei manchen Männern gut aussehen, bei anderen schwul beziehungsweise feminin.“
Felix, 24: „Es sollte jeder selbst entscheiden, ob er lieber maskulin oder feminin sein möchte. Dabei steht das in keiner Relation zur sexuellen Gesinnung. Ich kenne viele Männer, die sich feminin geben, von denen man denkt, dass sie homosexuell seien. Aber es ist eben einfacher Menschen in eine Schublade zu stecken, als sich aktiv mit ihnen auseinander zu setzen.“
Katharina, 22: „Kleidung betrachte ich als Geschlechtsneutral. Männer, die Kleider oder Frauen, die Männerklamotten tragen finde ich komplett normal. Die Mode geht ja auch mit den ganzen Unisex Sachen immer mehr in diese Richtung. Ich mag diesen Trend. Man hat nicht mehr so das Gefühl, dass Männer und Frauen von verschiedenen Sternen kommen und es lässt mehr Spielraum sich selbst und das was man mag zu finden.“
Allein an Hand dieser Aussagen merke ich, wie sehr die Gedanken über Normalität und Identität in der Frage zu Gender auseinander gehen. Zudem wird Geschlechtsidentität immer wieder mit Sexualität vermischt. Wenn ein Mann sich nicht der Norm entsprechend verhält und Eyeliner trägt oder sehr sensibel ist, dann wird oft geschlussfolgert, er würde damit eine Aussage über seine Sexualität treffen wollen.
Sexualität und Geschlechtsidentität
Nun hat Geschlechtsidentität und sexuelle Vorliebe nichts miteinander zu tun. Ein heterosexueller cisgender Mann schläft ja auch nicht nur mit Frauen, weil er ein Geschlechtsorgan hat, das sich in eine Vagina einführen lässt, sondern weil er diese Frauen anziehend findet.
Vielleicht ist ein Mann, der Eyeliner trägt schwul. Vielleicht ist er hetero, asexuell, bisexuell, pansexuell oder hat eine andere sexuelle Orientierung. Aber warum ist das überhaupt wichtig, wenn man nicht gerade versucht ihn abzuschleppen und die Lage auschecken will?
Schubladen sind praktisch für die, die ihr Gegenüber dort einsortieren und es liegt in der Natur des Menschen, Dinge und Menschen bestimmten Kategorien zuordnen zu wollen. Wir fühlen uns sicher, wenn wir wissen, wen wir dort vor uns haben.
Zeiten ändern sich nicht selbst. Wir ändern sie.
Als die ersten Frauen im 19. Jahrhundert begannen, Hosen zu tragen, mussten sie damit zwangsläufig eine Aussage treffen. Und wenn es nur die Aussage war, auf bestehende Normen keine Rücksicht zu nehmen. Heute gehe ich zum Kleiderschrank und ziehe vollkommen selbstverständlich eine Jeans heraus. Es ist normal geworden.
Eine Gesellschaft ändert sich nicht von heute auf morgen und auch dem offensten Menschen der Welt wird es passieren, dass er etwas als unnormal wahrnimmt. Wichtig ist nur, dass wir unser Denken und Handeln reflektieren. Es gibt so viele Arten, das Leben zu leben. Es gibt so viel zu entdecken, zu fühlen und zu lernen. In anderen und besonders in uns selbst. Beschränken wir uns nicht nur auf das, was wir schon kennen.
Von Kim von Ciriacy
Bildnachweis: Kyle Reim Photography