Berlin. Es muss gegen 1:00 Nachts gewesen sein. Wir beschlossen, in Richtung Mitte zu fahren. Einen wirklichen Plan hatten wir nicht, aber nach dem Abendessen mit unseren Müttern, bei dem uns unentwegt ins Gewissen geredet wurde wie unnatürlich zurückhaltend und desinteressiert wir an Liebe, Jungs und Beziehungen seien, verspürten Jojo und ich das unermessliche Bedürfnis, etwas zu erleben. „Ins Borchardt, bitte“ instruierten wir den Taxifahrer.
Wir stiegen die steile Wendeltreppe in den ersten Stock des schicken Berliner Restaurants empor, und klingelten mit der Selbstverständlichkeit zweier Promitöchter an der Tür. Bereit uns irgendeine Bullshit-Rechtfertigung aus den Fingern zu saugen, wurden wir, nach gründlicher Musterung und der simplen Frage „2?“, spartanisch durch den schmalen Gang nach innen hinein gewinkt.
We’re not in Kansas anymore
Wir atmeten die rauchige Luft ein, während wir die uns umgebenden Menschen beäugten. „We’re not in Kansas anymore“. „Kansas“ – in diesem Fall das reine Mädchen Klosterinternat am Arsch der Welt, welches wir vor zwei Jahren noch gemeinsam besucht hatten.
Nachdem wir uns einige Stunden glückselig in den Exzess der restlichen Umgebung geworfen hatten, machten wir von der schweißgetränkten Tanzfläche aus Kurs auf den menschenvollen Sitzbereich nebenan. Gewappnet mit Marlboro Lights und Vodka Bull ließen wir uns auf dem einladenden Sofa nieder.
Wir hatten kaum 10 Minuten Verschnaufsaufenthalt, da näherte sich uns aus heiterem Himmel ein konservativ aussehender Normalo Typ von Mitte 40, und stellte sich uns als Ben vor. Da ich seines Aussehens her davon ausging dass er der Geburtstagsgesellschaft eines Freundes meiner Mutter angehörte, dem ich wenige Stunden zuvor überraschend über den Weg gelaufen war, war ich ihm gegenüber von Anhieb an sehr zugänglich.
„Hey, ihr zwei. Kommt ihr mit ins Kit Kat?“ Ich entgegnete, dass das Kit Kat nicht so ganz unserer Szene entsprach. Er machte uns klar dass es ihm gleich ginge, man sich das Geschehen dort allerdings nichtsdestotrotz einmal ansehen könne. So ganz objektiv. Wir sahen uns nachdenklich an, und da der Drink in unseren Händen nicht der erste war, gaben wir – aus rein kulturellem Interesse – nach.
Bevor wir die Gelegenheit gehabt hätten, einmal richtig über unsere Aktionen nachzudenken, saßen wir auch schon mit dem Fremden im Taxi. Dieses beförderte uns nicht, wie ursprünglich vereinbart, ins Kit Kat sondern, verräterischer Weise, ins Insomnia – laut Mama Google ein reiner Swinger Club im hochanständigen Stadtteil Tempelhof.
„Sind das Strapse oder halterlose Strümpfe“
Leider war die Tatsache, dass er mir unentwegt mit den Händen über die Netzstrumpfhose fuhr und ständig die Frage „Sind das Strapse oder halterlose Strümpfe“ wiederholte, nicht gerade beruhigend. Wir versuchten noch, uns die schlimmsten Gedanken aus dem Kopf zu jagen, als die Türsteherin uns aufforderte, uns auszuziehen.
„Die Jacken“ schob sie nach, nachdem sie unsere entsetzten Gesichter registriert hatte. Zögerlich zogen wir die dicken Lammfellmäntel unserer Großmütter aus und übergaben sie den offenen Armen der in Lack und Leder gekleideten Garderobendame.
Zögernd, und mit den schlimmsten Erwartungen gingen wir die dunklen Stufen hinauf. Es eröffnete sich uns ein großer, von Neonlicht durchfluteter Raum. In der Mitte eine Tanzfläche auf dem ein halb nacktes Paar 50er Jahre Swing tanzte, an Wänden und Ecken zahlreiche Lederbänke, auf denen sich Pärchen ungestört in jeglicher Art vergnügten.
Unser neuer Freund gab uns unter dem riesigen Wandgemälde einer Orgie an der Bar je einen Longdrink aus und überredete uns dazu, einen Rundgang durch die Lokalität zu machen. Ich fand mich auf einmal im Mittelpunkt eines Geschehens, in das ich mich nie hineingeträumt hätte.
Zu meiner Linken ein, Gott sei Dank unbesetzter Gynäkologenstuhl und ein widersprüchlich offenes Séparée, in dem eine niedergekniete Frau einem in ein Korsett gekleideten Mann scheinbar in den Schoß weinte. Während sich ihr Kopf – vermutlich durch das Beben ihres Schluchzens – auf und ab bewegte, sah der Mann unangebracht zufrieden aus.
Zu meiner Rechten eine blau beleuchtete Dusche voller nackter Männer, deren Aufmerksamkeit scheinbar nur auf uns gerichtet war – möglicherweise aus dem Grund dass wir die einzigen bekleideten Personen im ganzen Etablissement waren.
Als Ben genug gesehen hatte gingen wir zurück an die Bar, wo er – nachdem er mir ausreichend am Po rumgestreichelt und einen gescheiterten Knutschversuch gestartet hatte – mit den zwei benachbart stehenden Dirnen ins Gespräch kam.
Jojo und ich beschlossen die Gelegenheit zu nutzen und fragten den oberkörperfreien, maskierten Barkeeper, wo man hier rauchen könne. Wir beschlossen, das Beste aus der Situation zu machen und uns dieses Paralleluniversum einfach einmal vorurteilsfrei von außen anzusehen. Auf seine Wegweisung hin schlenderten wir an der überdimensionalen Schaukel vorbei in den nebenliegenden Raucherbereich.
Bedauerlicherweise hatten wir uns zu früh entspannt, denn unser Borchardt-Kumpane hatte uns nicht vergessen. Er kam, nahm neben uns Platz und fragte eine Reihe unanständiger Fragen, bei deren Wiederholung ich mich nicht wohlfühle.
Als letztendlich klar wurde, dass wir 19 jährige Klosterschülerinnen sind und dass er sich die wohl prüdesten zwei Bratzen in ganz Berlin herausgepickt hatte, schien er langsam die Hoffnung einer erlebnisreichen Nacht aufzugeben. Wieder zu früh gefreut.
Wie auf seine vorigen Statements entgegneten wir auch allen folgenden Aussagen mit einem peinlichen Kichern, einem freundlichen „Nein, Danke“ und heftigem Kopfschütteln.
Nach einem weiteren fehlgeschlagenen Knutschversuch, benutzten wir einmütig unser zu Beginn des Abends abgesprochenes Codewort: „Gehen wir aufs Klo?“ Durch den Plan, uns daraufhin nach polnischer Art zu verdrücken, schien er uns auch wieder einen Strich durch die Rechnung zu machen, als er sich schlicht und wie selbstverständlich mit den Worten „Ja! Gehen wir aufs Klo“ einmischte.
Wir sahen uns entsetzt an, konnten jedoch letztendlich wieder aufatmen als er euphorisch voraus ging mit dem scheinbaren Ziel, uns den Weg zu leiten. Telepathisch sprinteten wir in einem Tempo, dass ich zuvor erst einmal erbringen konnte – nämlich als ich im Internat nach Sperrstunde betrunken vom rauchen zurück kam und den Tür Alarm auslöste – in Richtung Ausgang.
Von Luisa Goeler