Sie sind klein und leicht zu übersehen: 5000 Stolpersteine. Die kleinen Betonplatten mit Messingüberzug erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. Mit einer besonderen Aktion setzen Berlins Bürger ein Zeichen gegen das Vergessen.
Es ist ein kalter, sonniger Tag. Vor der Zionskirche in Berlin-Mitte treffen sich nach und nach um die dreißig Menschen. Etwa eine vornehme, fein angezogene ältere Dame, oder der typische „Prenzlberger Künstlertyp“ im Ökolook, dazu ein junges Pärchen mit Baby im Kinderwagen – auf den ersten Blick lauter Menschen ohne Gemeinsamkeiten. Sie treffen sich hier zum Putzen: Im Gedenken an die Reichspogromnacht vor 75 Jahren reinigen sie Stolpersteine, um sie wieder lesbar zu machen. Und um unsere Aufmerksamkeit zu wecken: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Das ist das Motto, unter dem die Steine verlegt werden. Und dieses Vergessen soll niemals passieren. Dafür setzen sich Berlins Bürger ein.
Am 9. November 1938 riefen die Nationalsozialisten deutschlandweit zu Übergriffen auf Juden und deren Eigentum auf. Synagogen wurden angezündet, Geschäfte geplündert und zerstört und hunderte jüdische Mitbürger misshandelt und ermordet. Damit begann die schlimmste Judenverfolgung der Geschichte. So wurde der 9. November ein Tag um innezuhalten und der Opfer von Antisemitismus, Rassismus und anderer Diskriminierung zu gedenken.
Über die Vergangenheit stolpern
Die Stolpersteine sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunther Demnig. Sie erinnern an diejenigen, die von den Nationalsozialisten vertrieben, deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. Dazu gehören nicht nur Juden, sondern auch Homosexuelle, Sinti und Roma, geistig und körperlich Behinderte und andere Verfolgte im Dritten Reich. Meist werden die Steine, an deren Oberseite jeweils eine individuell beschriftete Messingplatte befestigt ist, vor dem letzten Wohnort der jeweiligen Person verlegt. Wer mit offenen Augen durch Berlins Straßen geht findet sie überall.
Und mit offenen Augen gehen an diesem Tag viele Menschen durch die Stadt. Kulturstaatssekretär André Schmitz (SPD) hatte im Rahmen des Themenjahres „Zerstörte Vielfalt“ 2013 dazu aufgerufen, sich der Stolpersteine anzunehmen.
Auf Knien
Die dreißig Menschen vor der Berliner Zionskirche teilen sich in sieben kleinere Gruppen auf. Jede Gruppe bekommt ausreichende Putzmaterialien, Kerzen, Streichhölzer und einen Zettel mit einer Route: Jeweils ungefähr zehn Adressen. Alle machen sich auf den Weg. Anklamer Straße, Strelitzer Straße, Invalidenstraße, Torstraße: Bei jeder Station begeben sich die Freiwilligen abwechselnd auf die Knie, reinigen und polieren die Messingplatten und zünden Kerzen an. Hintergrundinformationen über den Menschen, manchmal über ganze Familien, werden verlesen.
Da ist Heinz Bibergeil, aus der Anklamer Straße, der 1942 als Homosexueller in Ausschwitz vergast wurde. Da sind Edith Seeliger und ihr ein Jahr alter Sohn Judis, die aus ihrer Wohnung im Weinbergsweg nach Ausschwitz verschleppt und dort umgebracht wurden. Die Namen erzählen Geschichten. Die Ermorderten bekommen Gesichter.
Manchmal ist die Überraschung groß: Dann, wenn die Bewohner der Häuser, vor denen die Stolpersteine eingelassen sind, schon selbst geputzt haben. Allerdings empfinden nicht alle Bewohner der Häuser die Gedenktafeln vor ihrer Tür als positiv. Als „wertmindernd“ werden sie von manchen bezeichnet, so Menard. Andere üben Kritik, da die Vergangenheit wortwörtlich mit Füßen getreten werde. Und wieder andere beschmieren und demolieren die Stolpersteine.
„Für die kommenden Generationen lernen“
Zwei Stunden, über 100 saubere Stolpersteine und viele interessante Gespräche später treffen sich die Helfer wieder am Ausgangspunkt. Diesmal in der Kirche, wo die Namen der Opfer des NS-Regimes verlesen werden, deren Namen jetzt wieder glänzen und die Aufmerksamkeit von Passanten erregen. Im Anschluss hält Pfarrerin Menard eine kurze Andacht: „In uns lebt der Wunsch, für uns und die kommenden Generationen zu lernen, was es heißt einander zu heilen und nicht zu verletzen.“
Berliner können etwas tun um die Erinnerung an die Vergangenheit zu erhalten und so vor Fehlern in der Zukunft warnen. Mit dieser Aktion zeigen sie: Wir sind gegen Diskriminierung jeder Art, sondern für ein vielfältiges, multikulturelles Berlin.
Von Ruth Bauer