„Die Menschen hören nicht mehr auf ihr Herz, ihren Verstand und ihre Seele. Sie vergessen, was es heißt, mitmenschlich zu sein.“
Berlin: In einem Park etwas abseits vom Weg steht ein kleiner Unterstand. Darunter eine Bank, eng an die Wand geschoben. Auf dem Waldboden verstreut liegen etliche zusammengeknüllte Taschentücher, ein wenig entfernt stehen ein schwarz-pink gemusterter Koffer und eine blaue Mülltüte. Auf der Bank sitzt Juliane, dick in zwei alte Schlafsäcke eingewickelt. Eine Wodkaflasche klirrt und die Zigarettenschachtel daneben ist fast schon leer.
Diese Bank ist ihr Zuhause, denn seit einem dreiviertel Jahr ist Juliane eine von geschätzten 20.000 Obdachlosen in Berlin. Und doch sticht Juliane aus der Masse heraus, denn sie „engagiert“ sich täglich für Politik.
Kurze dunkelblonde Haare umrahmen ein gealtertes Gesicht. Die wachen Augen werden von tiefen Augenringen überschattet. Juliane ist der forsche, lebenslustige Typ. Sie lebt selbstbestimmt, soweit es ihr möglich ist, liest gerne und viel und Interessiert sich ungemein für Politik.
Obdachlos und politisch engagiert: Kein Widerspruch
Jeden Tag schaut Juliane auf die Ereignisse des Tages. Was in Berlin, Deutschland und dem Rest der Welt passiert, ist für sie von großer Bedeutung. Die Zeitung ist für sie eine morgendliche Pflichtlektüre und neben einem Kaffee ein fester Bestandteil ihres Lebens. Abends hört Juliane dann auf ihrer Bank mit ihrem Welt-Empfänger noch einmal die Nachrichten.
Für sich hat sie entschieden, dass sie nicht nur mit ihrer Wahlstimme politischen Einfluss nehmen möchte, denn sie kann und will zu den meist schrecklichen Geschehnissen nicht schweigen. Und das tut sie auch nicht: Wird die Einsamkeit, oder das Bewusstsein der eigene Ohnmacht zu groß, brüllt sie. Besser gesagt, sie schreit ihre Meinung heraus, zu allen politisch-aktuellen Themen und das sehr laut.
Politik ist Julianes Leidenschaft. Wer nachts durch den Park spaziert, hört sich also freiwillig oder unfreiwillig die politische Meinung der Obdachlosen an. Wie weit ihre Stimme reicht, weiß Juliane nicht genau, aber sie gibt sich alle Mühe, die Welt zu verändern.
Nicht rechts, nicht links. Politik muss menschlich sein
Die erste Nacht allein in den Straßen Berlins ist die schlimmste, sagt Juliane. Aus Angst überfallen zu werden, fährt sie die ganze Nacht mit der U- Bahn durch Berlin. Mit Kaffee hält sie sich wach. Das war vor einem dreiviertel Jahr. Bis heute ist viel passiert: Angeschrien, geschlagen und mit Dreck beworfen. Immer häufiger wird Obdachlosen mit Gewalt gegenübergetreten.
Auch Juliane hat mit Gewalt ihre Erfahrung machen müssen. Berichte über angezündete Obdachlose in Berlin machen ihr Angst, ist sie doch jetzt eine von ihnen. Dass diese Taten teilweise von Flüchtlingen begangen wurden, macht für Juliane keinen Unterschied. Sie macht deutlich, gegen Flüchtlinge hat sie nichts und „rechts“ ist sie auch nicht. Juliane meint, dass Flüchtlinge teilweise größere Unterstützung vom Staat erhalten als Obdachlose. Trotzdem ist sie der Meinung, dass die Grenzen offen bleiben sollten. „Jeder braucht ein Dach über dem Kopf“, so die Obdachlose.
Gibt es für Obdachlose einen Sinn im Leben?
Auf die Frage, wo Juliane sich in fünf Jahre sieht, hat sie keine Antwort. Manchmal träumt sie davon, eine Wohnung zu finden, aber Hoffnung hat sie keine mehr. Trotzdem steht sie jeden Morgen auf und liest die Zeitung.
„Je mehr mir das Leben zusetzt, desto mehr wehre ich mich!“, sagt Juliane. Sie führt ein selbstbestimmtes Leben, weiß aber, dass nicht alles in ihrer Hand liegt. Dennoch wird sie weiter machen.
Und dann ergänzt sie: „Trotz allem! Jetzt erst recht.“
Von Finja Schön
Bildnachweis: Von Ben_Kerckx [CC0] via pixabay.com