Keine Ballons über Donezk. Was haben wir aus dem Fall der Mauer gelernt?

Russische Panzer, Stacheldraht, Unterdrückung und ein geteiltes Land: Was wie eine nostalgische Beschreibung der DDR klingt, ist Alltag im Osten der Ukraine. Seit Februar herrschen dort bürgerkriegsähnliche Zustände, die politische und wirtschaftliche Handlungen verhindern und allen voran die gesellschaftliche Entwicklung vergiften. Die Akteure in dieser Krise erinnern jedoch sehr an die, die während des Kalten Krieges involviert waren: ein zerrüttetes Europa, missionierende Amerikaner und expandierende Russen. Anlässlich der aktuellen Lage kommt einem das 25-jährige Jubiläum des Mauerfalls fast zynisch vor.

Die Menschen im Osten der Ukraine, wie in Donezk und Luhansk, sind gefangen zwischen ukrainischen Truppen und russischen Separatisten, die mit schwerer Ausrüstung und strategischem Können eine Rückeroberung fast unmöglich machen.

Obwohl Russland jeden direkten Kontakt zu den Separatisten abstreitet, liegt es auf der Hand, dass die russische Regierung einen großen Anteil an der Schlagkräftigkeit der kleinen Separatisten-Armee hat. Laut US-Außenminister Kerry liegen ihm Dokumente und Aussagen vor, die eine russische Beteiligung zweifelsohne beweisen: Neben russischen Panzern, Granatwerfern und Raketen tragen manche Separatisten sogar Uniformen mit russischen Abzeichen und sprechen einen Dialekt, der normalerweise tausende Kilometer entfernt benutzt wird.

Ein Motiv hat Russland auch: Die Expansion der NATO im Osten Europas sorgt Stück für Stück für eine Einkesselung Russlands durch militärische Stützpunkte, die im Fall eines Manövers von unschätzbarem Wert wären.

Wieder wird ein Land aufgrund politischer Interessen künstlich geteilt

Der Westen, allen voran die USA, begnügt sich mit öffentlichen Denunzierungen und wirtschaftlichen Sanktionen. Von einer gemeinsamen Offensive in der Ukraine, wagt man nicht einmal zu sprechen. Doch für die Anwohner der belagerten Städte sind die Diskussionen und Sanktionen nur Schall und Rauch. Ihr Alltag hat sich in einen tristen und ausweglosen Kreislauf entwickelt, aus dem es so schnell kein Entkommen geben wird. Bilder von provisorischen Grenzen, bestehend aus Stacheldraht, alten Reifen und Sandsäcken, erinnern eindrücklich an den Bau der Berliner Mauer 1961. Wo eine Mauer fällt, wird eine neue errichtet.

Parallelen gibt es genug, keine Frage. Zum Beispiel gäbe es da die Unterdrückung und Überwachung der Bevölkerung, die stark an die Methoden der Staatssicherheit erinnert: Bewaffnete Soldaten überwachen die „Wahlen“, Journalisten werden nach kritischen Veröffentlichungen als „vermisst“ gemeldet und die Angst wird als universelles Mittel gegen jedes Hindernis benutzt. Im Gegensatz zur Krim, deren Bevölkerung ethnisch betrachtet russisch ist, haben die Bewohner von Donezk keine so enge Verbindung zum ehemaligen Zarenreich.

Die Ukraine blutet ihren Osten durch Entzug der Finanzen aus

Eine weitere Ähnlichkeit wäre der soziale Rückgang und das damit verbundene gesellschaftliche Elend. Abgesehen von dem Mangel an Nahrungsmitteln und desaströsen Zuständen öffentlicher Einrichtungen, hat die Regierung in Kiew kürzlich beschlossen, die Sozialleistungen für den Osten der Ukraine kurzerhand zu streichen. Nach dem gleichen Schema hat die SED versucht, ihre Bewohner zu schwächen und somit ihren Willen zu brechen, doch diesmal kommt dieser Entschluss nicht aus Moskau, sondern aus Kiew. Und was damals das Resultat von ineffizienter Planwirtschaft und einer bösartigen Auslegung des Kommunismus war, ist heute die Entscheidung eines demokratischen und europäischen Parlaments, dessen Verfassung auf den Menschenrechten beruht.

Das Verhalten der beiden Großmächte erinnert ebenfalls an die Zeiten des Kalten Kriegs. Anstatt einen Dialog zu suchen und Kompromisse zu finden, werden Länder erobert und heiße Kriege geführt. Nach dem Schema „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ werden die Gegner des jeweils anderen unterstützt und aufgerüstet.

Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen der DDR und dem Osten der Ukraine. Anders als die Bürger der DDR, haben die Menschen in der Ukraine die Chance, die Zukunft des Landes mitzubestimmen. Die freien Wahlen, die die Zusammensetzung des Parlaments bestimmen, seien laut OSZE weitgehend demokratisch und sind ein großer Schritt in eine progressive und proeuropäische Zukunft, die die Ukrainer frei für sich entschieden haben.

Wir leben im Jahr 2014. Die Idee der universellen Grundrechte sowie modernen Ideale beeinflussen unser Denken und unsere Moral seit fast sieben Jahrzehnten. Und man sollte doch meinen, diese Zeit sei lang genug gewesen, um essenzielle Werte zu verinnerlichen und dagegen anzugehen, sollten diese denn verletzt oder missachtet werden.

Wir alle tragen Verantwortung für diese Niederlage

Anders als 1961 können wir heute nicht damit argumentieren, dass der Zeitgeist von veralteten und fatalen Ideen geprägt ist. Wir können die Schuld nicht pauschal den „Bolschewisten“ oder „Nazis“ in die Schuhe schieben. Dieses Mal müssen wir alle einen Großteil der Konsequenzen stillschweigend als Niederlage hinnehmen.
Mit „wir“ sind nicht Deutsche oder Franzosen gemeint, nicht Sozialisten oder Konservative und auch nicht Weltveränderer: das wir schließt jene Menschen ein, die es nicht für selbstverständlich halten, dass wirtschaftliche und geopolitische Interessen Menschenleben wert sind. Menschen, die die Beseitigung von Konflikten nicht als außenpolitischen Sektor, sondern als globale Verantwortung sehen. Menschen, die mit alten, inhumanen Denkmustern brechen wollen, um einen Zeitgeist zu erschaffen, der erst unsinniges Leiden beenden will, bevor er an Profit denkt.

Ein Staat zerreißt, wenn er zwischen die geopolitischen Fronten gerät

2014 herrscht kein verheerender Weltkrieg mit fatalen Folgen für die Menschheit. Es gibt keinen Hitler oder Stalin, kein Pearl Harbor oder Hiroshima. Was es dieses Mal so weit gebracht hat, ist die Frage, die man einem Land gestellt hat, das seit Jahrzehnten hilflos einen Balanceakt zwischen Ost und West versucht. Die Lage wurde verharmlost und die Politik war sich darin einig, dass Russland die Hauptschuld trägt. Somit war auch ein Großteil der Verantwortung nicht mehr im Handlungsbereich der westeuropäischen Länder und es wurde verdrängt, dass es nur eine logische Konsequenz gibt, wenn ein Dritter Staat instrumentalisiert wird und zwischen die Fronten zwei mächtiger Ideologien gerät: er zerreißt. Und Beweis für diesen Riss sind die hässlichen Narben, die die Ukraine nun trägt.

Mit diesem Wissen schmeckt die Luft am Brandenburger Tor anders. Tausende von Menschen sind im November nach Berlin gepilgert, um Solidarität und Frieden zu feiern. Es wird gedrängelt und geschubst, jeder will die beste Aussicht, um später mit imposanten Fotos seine Lieben beeindrucken zu können. Ein Gefühl von Solidarität will nicht so recht aufkommen, es wirkt eher wie ein überfüllter und hektischer Jahrmarkt.

Es besteht berechtigter Zweifel daran, ob die meisten wirklich wissen, was hier zelebriert werden soll. Eine Feier zum Fall der Mauer sollte denen gedenken, die durch ihren Mut und auch ihre Angst dazu getrieben wurden, gegen einen Unrechtsstaat auf die Straße zu gehen und somit ein geteiltes Land wieder zusam-men zu führen. Sie sollte signalisieren, dass die Welt nicht mehr bereit ist, ihre Bewohner einsperren zu lassen und dass solche Zustände nie wiederkehren werden. Sie sollte die Mutigen darin bekräftigen, sich auch künftig gegen Unrecht und Tyrannei zu wehren und die Opfer in ihrer Geduld stärken. Doch ironischerweise verhalten sich die meisten Menschen heute genau so, wie unsere hiesigen Politiker: sie machen sich selbst zu Schaulustigen.

Von Celal Cagli

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