Seit einigen Jahren findet die Inklusionsdebatte auch öffentlich statt. Doch wie lebt, wie liebt es sich heute mit einer Behinderung? Eine Momentaufnahme in einer betreuten Wohngruppe.
Es riecht nach frisch gewaschener Wäsche und Kaffee, als mir Birgit die Tür öffnet. Die Mittvierzigerin mit den feuerroten Haaren bittet mich in den geräumigen Flur der hellen Altbauwohnung. „Komm rein, ich hab´ uns zwei Latte gemacht. Rauchst du?“
Sie drückt mir ein großes, dickes Glas in die Hand, unten Kaffee, darüber Milchschaum, oben Kakao-Pulver, viel Zucker. Würde man im Starbucks nicht besser kriegen. Birgit lacht: „Ist vom Aldi um die Ecke – ich bin mittlerweile süchtig nach dem Zeug!“
Über die hell lackierten Holzdielen gehen wir an der geräumigen Küche vorbei. Es ist 15 Uhr, in einer Stunde wird hier Hochbetrieb herrschen. „Gerade sind noch alle auf der Arbeit“ wirft mir Birgit über die Schulter zu. Sie holt einen großen Schlüssel aus der Tasche ihrer Wolljacke und schaut mich verschwörerisch an. „Zum Rauchen dürfen wir Joshuas Balkon benutzen. Sonst müssten wir immer runter, in den ersten Stock. Wir dürfen nur nicht vergessen, nachher wieder abzuschließen. Da wird er fuchsig!“
Joshua, das ist einer der fünf Bewohner der Strese III, wie die WG im dritten Stock des Altbaus in der Stresemannstraße liebevoll genannt wird. Im Erdgeschoss wohnt eine Familie, darüber drei Wohngemeinschaften, jede auf einem Stockwerk. Die Wohnungen sind groß, hell und persönlich eingerichtet. Und alle haben ein eigenes Büro angeschlossen, das abends zugesperrt wird. „Für die Betreuer“ sagt Birgit. Sie ist eine der Betreuerinnen, die Wohngruppe wird vom lokalen Ableger der Lebenshilfe betrieben. Die gemeinnützige Organisation betreibt neben einer Werkstatt, einer Tischlerei und einer Großküche mehrere Wohngruppen und Wohnheime für betreutes Wohnen in der Kleinstadt, in der auch die Bewohner der „Strese“ leben. Auch eine ambulante Betreuung wird angeboten, für Menschen, deren Unterstützungsbedarf so gering ist, dass sie zwar bei Amtsgängen und Ähnlichem begleitet werden, jedoch weitgehend autark leben. So weit ist hier in der Strese allerdings noch niemand und wird es vermutlich auch nie sein.
Ich komme mir komisch dabei vor, durch das unaufgeräumte Zimmer von Joshua zu gehen, um auf den Balkon zu gelangen. Fast wie ein Eindringling. „Das ist schon ok, Joshua hat sich da nicht so“ meint Birgit. Auf dem Boden liegt schmutzige Wäsche, auf den Möbeln stapelt sich das benutzte Geschirr. An den Wänden hängen Fotos von Angeltrips und Wanderausflügen. Das Hochbett ist mit einer Bettwäschegarnitur für Kinder bezogen. Im Regal stehen ungeöffnete Flaschen „Hartstoff“, wie Joshua den billigen Whiskey später nicht ganz ohne Stolz nennen wird.
„Dürfen die Bewohner trinken?“ frage ich Birgit und komme mir sofort dämlich vor. „Klar, warum nicht? Solange hier keiner Stress macht deswegen, geht mich das gar nichts an. Übrigens sind hier durch die Bank weg alle vernünftiger, als ich es in dem Alter war“. Sie lacht und zeigt mir ihre Schulter. Darauf ein Tattoo; ein ausgeblichenes, völlig verschmiertes Batman-Logo. Es sieht so aus, als wüsste Birgit, wovon sie redet.
Sie zieht an ihrer Selbstgedrehten und blickt von Joshuas Balkon aus auf die Altstadt herab. Die Wohnung liegt zentral, nur fünf Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt. Die Betreuerin ist seit 13 Uhr hier, hat sich bis gerade, kurz vor drei, um die Papierarbeit gekümmert. Als nächstes wird sie gesunde Snacks vorbereiten, Paprikastreifen mit magerem Frischkäse und einen Obstteller. „Manchmal muss man sie ein bisschen schubsen“, grinst Birgit, „ansonsten würden sie sich den ganzen Tag nur Chips reinziehen“.
Neben der alltäglichen Begleitung in der Küche, bei Amtsgängen und anderen alltäglichen Aufgaben muss Birgit Fortschritte in von den Bewohnern selbst gewählten Projekten notieren, Probleme erkennen und weitere Pläne ausarbeiten. Alles Teil der Arbeit einer Heilerzieherin. „Die Arbeitszeiten sehen auf dem Papier gemütlich aus“ sagt sie ernst. „Dafür nimmst du leicht Arbeit mit nach Hause“. Birgit macht den Job seit mehr als zwanzig Jahren, arbeitet vierzig Stunden in der Woche und mehr, um ihren Schützlingen das Leben zu erleichtern. „Wegen des Geldes ist niemand hier, so viel steht schon mal fest“. Birgit lacht viel, während sie spricht. Die Arbeit macht ihr Spaß, das hört man.
Seitdem die Wehrpflicht und mit ihr der Zivildienst abgeschafft wurde, stellt ihr die Lebenshilfe jedes Jahr einen sogenannten FSJler zur Seite. Das sind meist frisch gebackene AbiturientInnen, die vor Beginn ihrer Ausbildung oder ihres Studiums ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, um zu lernen, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen. Viele überlegten laut Birgit auch, im sozialen Bereich zu arbeiten und wollten sich erst einmal ausprobieren.
„Die meisten machen gute Arbeit und bleiben ein ganzes Jahr“, sagt Birgit. Dadurch entstünden jedoch auch Probleme; die vierzig Stunden in der Woche, die die FSJler mit den Bewohnern verbringen, schweißen emotional zusammen. Die Bewohner gewöhnen sich an ihre Bezugspartner im gleichen Alter, gewinnen in manchen sogar gute Freunde – und müssen sie nach einem Jahr gehen lassen. Die Küche der Altbau-WG hängt voll mit den Fotos von Ehemaligen, die Gruppe gemeinsam auf Ausflügen, im Freizeitpark oder auf Musikfestivals.
Für die Bewohner der Strese III ist Birgit zugleich Assistentin, Motivatorin und oft auch Ersatz-Mutter. Zum Aufstehen und zur Arbeit gehen benötigt hier niemand ihre Hilfe. Schwierig wird es bei alltäglichen Besorgungen, Amtsgängen oder dem Einhalten des WG-Putzplanes. Die Wohngemeinschaft besteht ausschließlich aus jungen Menschen, niemand ist hier älter als 30. Und alle haben einen Schwerbehindertenausweis.
Da ist Christina, die mit einer Lernbehinderung lebt, genau wie Joshua. Da sind Kevin und Daniel, die beide mit Trisomie 21 zur Welt gekommen sind. Und da ist Greta, die gesund geboren wurde und als Kind durch eine Hirnhautentzündung schwerbehindert wurde. Ihr schwerfälliger Gang, bedingt durch eine Hüftspastik und das Dehnen der Satzenden beim Sprechen sind die auffälligsten Merkmale ihrer Kondition. Die fünf sehr unterschiedlichen Charaktere in der Strese III gehören im Landkreis zu den Klienten mit dem geringsten Hilfebedarf, wenigstens über die physischen Aspekte von Hilfe lässt sich das sagen. Dass durch ihr Handicap jedoch Probleme entstehen, die für gesunde Menschen auch auf den zweiten Blick nur schwer nachzuvollziehen sind, haben sie alle schon zur Genüge gespürt. Es sind Probleme jenseits von nicht vorhandenen Rampen für Rollstuhlfahrer, die über die letzten Jahre die Inklusionsdebatte dominierten. Die sind zweifelsohne das offensichtlichste Symptom der Probleme, die Deutschland selbst mehr als zwanzig Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention noch hat. Doch das Thema Inklusion ist deutlich komplexer.
Obwohl die Lebenshilfe versucht, viele Berührungspunkte mit der Gesellschaft in der kleinen Stadt zu schaffen, ist das Thema Inklusion für viele Bürger noch weit entfernt. Im Stadtzentrum betreibt die Organisation ein kleines Restaurant, gutbürgerliche Küche, in dem bis auf einen Koch nur Menschen mit Behinderung arbeiten. Stammgäste kommen gerne hier hin, die meisten sind jedoch Angehörige oder Freunde. Wer nicht unmittelbar durch Menschen mit Behinderung in der eigenen Familie oder dem engen Umfeld betroffen ist, für den spielt Behinderung im Alltag eine untergeordnete Rolle. „Warum sollten die Leute sich auch damit konfrontieren? Dass man selbst vom einen auf den anderen Tag durch einen Unfall oder eine Krankheit auf einmal einen Schwerbehindertenausweis in der Tasche haben könnte und nicht mehr in der Lage sein könnte, alleine zur Toilette zu gehen, ruft sich keiner gerne vor Augen“. Birgit macht eine lange Pause. „Nur, dadurch wird die Möglichkeit nicht verschwinden“.
Wie kommt man im Alltag zurecht, wenn selbst das Lesen eines Busfahrplanes zur Herausforderung wird? Wenn man kein Verständnis für das abstrakte Konzept von Geld hat, keine Vorstellung von dessen Wert? Wie geht man einkaufen, wenn die Münzen im Brustbeutel in keinem Zusammenhang stehen mit der Einkaufsliste in der Hosentasche?
„Wir haben das Glück, in einer relativ kleinen Stadt zu leben“, meint Birgit. „Dadurch, dass man uns hier kennt, sind viele auf der zwischenmenschlichen Ebene bereit, Hilfe anzubieten, wenn sie benötigt wird“. Dazu gehöre beispielsweise, dass die Kassierer im Supermarkt das Geld selbst zählten, wenn die Bewohner der Strese es auf den Tresen legten. Doch die offensichtlich gut gemeinten Aktionen Fremder gehen nicht selten völlig am Ziel vorbei. „Es ist schon komisch, wenn du mit einem erwachsenen Menschen in ein Geschäft gehst und gesiezt wirst, er aber im gleichen Atemzug geduzt wird. Wenn die Leute sich überhaupt die Mühe machen, ihn anzusprechen. Es tut mir in der Seele weh, zu sehen, dass viele Menschen unseren Klienten absichtlich oder unabsichtlich die Würde aberkennen, für sich selbst zu antworten, zu handeln und in Konsequenz auch vollständig selbstständig zu leben“, erzählt mir Birgit.
Dass es vor allem die Gesellschaft ist, die Menschen behindert, ist eine relativ neue Erkenntnis. Erst seit den 1980er Jahren wird in Deutschland im Rahmen des sogenannten Normalisierungsprinzips darauf geachtet, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung, sofern im Einzelfall möglich, denen nichtbehinderter Menschen weitestgehend anzupassen. Dadurch sollen Grenzen abgebaut, der Dialog gefördert und die Integration vorangetrieben werden. In vielen Bundesländern gibt es mittlerweile Bemühungen, Menschen mit Behinderung schon früh zu integrieren. Kindergärten, die dem Inklusionsansatz folgen, sind keine Seltenheit mehr und auch das Konzept der Sonderschule wird nach und nach abgebaut, um die Schüler in gemeinschaftlichen Klassen zu unterrichten.
Wie liebt man behindert?
Die beiden größten Themen in den Wohngruppen seien laut Birgit jedoch Liebe und Sexualität. Wie gestaltet sich die Partnersuche, wenn man unfreiwillig am Rande der Gesellschaft lebt, statt mittendrin? Wenn man auf Partnerbörsen, die explizit auf Menschen mit Behinderung ausgerichtet sind, angewiesen ist? Weil man, sobald man eine Bar betritt, mitleidig angeschaut wird oder sich abfällige Kommentare am Nebentisch anhören muss?
Die meisten Klienten der Lebenshilfe haben kaum Kontakte außerhalb der Organisation. Sie leben in betreuten Wohneinrichtungen und gehen wie Greta in der Großküche oder wie Joshua in der Gärtnerei der Organisation zur Arbeit. Viele der Bewohner fingen daher laut Birgit untereinander Beziehungen an. Die meisten kommen aus der Gegend, kennen sich schon aus der Schule oder lernen sich in den Werkstätten oder den Wohngruppen kennen. „Prinzipiell spricht natürlich gar nichts dagegen, wenn zwei Mitbewohner etwas miteinander anfangen“, sagt Birgit. „Es gab in der Vergangenheit jedoch einige Probleme, wenn die Beziehungen dann auseinandergingen. Das ist aber wohl in jeder Wohngemeinschaft so, man sollte halt nicht da scheißen, wo man frisst“ sagt Birgit augenzwinkernd.
Doch Beziehungen Behinderter stehen vor weitaus größeren Herausforderungen, als Beziehungen Nichtbehinderter. Birgit erzählt mir eine Geschichte. „Es gibt in unserem Wohngruppenverbund ein Pärchen. Nennen wir sie Mirko und Sabine. Die beiden sind seit Ewigkeiten zusammen, so lange ich mich erinnern kann. Sie lieben sich, und sie zeigen es auch. Mirko schiebt Sabine jeden Tag in ihrem Rollstuhl durch die Stadt. Viele kommen gut mit den beiden aus. Irgendwann fingen andere Bewohner jedoch an, sich über Mirko zu beschweren. Auch Betreuern war aufgefallen, dass er öfter sexuell eindeutige Bemerkungen gegenüber Frauen machte. In einem klärenden Gespräch kam dann raus, dass er Vorlieben und Bedürfnisse hat, die ihm Sabine einfach nicht erfüllen kann, weil sie im Rollstuhl sitzt. Was macht man nun mit so Jemandem? Wir haben uns dann noch einmal mit den beiden gemeinsam hingesetzt. Am Ende sind wir zu dem Schluss gekommen, dass eine Sexualassistentin Mirko das geben könnte, was Sabine nicht vermag. Mirko trifft sich nun regelmäßig mit der Sexualassistentin. Ich glaube, für Sabine war das am Anfang sehr hart. Aber wir haben sie von Anfang an in den Prozess einbezogen, und letztendlich führen sie dadurch nun ihre glückliche Beziehung weiter“.
SexualassistentInnen oder auch SexualbegleiterInnen sind vor allem Frauen, die auf die Bedürfnisse Behinderter spezialisiert sind. Einfühlsam versuchen sie, sich ihren Klienten körperlich zu nähern und im therapeutischen Kontext Bedürfnisbefriedigung anzubieten. Oft bleibt es bei Berührungen und emotionaler Nähe, je nach dem welche Grenzen die Sexualassistenz hat, wie der Klient kann und welche Wünsche er hat, ist aber auch Sex nicht ausgeschlossen. Doch obwohl die Sexualassistenz genau wie die Prostitution sexuelle Dienstleistungen beinhaltet, wäre der Begriff „Prostituierte“ wohl falsch, wenn man Sexualassistentinnen beschreiben wollte. Sexualbegleitungen absolvieren eine therapeutische Ausbildung, um die Bedürfnisse ihrer Klienten erfüllen zu können.
Sie nehmen einen besonderen Platz in der Verwirklichung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ein. Denn obwohl jeder Mensch ein im Grundgesetz verankertes Recht auf eine freie und selbstbestimmte Entfaltung seiner Sexualität hat, wird die wirkliche Entfaltung in der Praxis oft durch körperliche Behinderungen eingeschränkt. Auch die nicht vorhandene Privatsphäre in Wohnheimen oder andere mit der eigenen Behinderung oder der Behinderung des Partners zusammenhängende Gründe können diesem Grundrecht im Wege stehen. Das Thema war lange ein Tabu und ist immer noch umstritten. Mittlerweile gibt es jedoch auch durch Verbände wie pro Familia die Möglichkeit, sich umfassend über die Möglichkeiten der Sexualassistenz zu informieren.
Sexuelle Frustration kanalisiert sich oft in unvorteilhaften oder aggressiven Stimmungen, davon kann jeder, der die Pubertät hinter sich hat, ein Lied singen. Vor allem Angehörige und Freunde, aber auch Pfleger und Betreuer können deutlich zu spüren bekommen, wenn die sexuellen Bedürfnisse ihres Angehörigen, Freundes oder Schutzbefohlenen nicht erfüllt werden.
Auch für Daniel ist Sexualität ein großes Thema. Der 28-Jährige kommt verschwitzt zur Tür rein. „Ganz schön heiß draußen“ grinst er in die Küche und begrüßt mich mit lockerem Handschlag. Er kommt gerade von der Arbeit. Daniel ist der einzige in der WG, der den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft hat, also nicht mehr bei der Lebenshilfe arbeitet – über einen Kontakt seiner Mutter hat er einen Job in der Logistikabteilung eines großen Versandhauses für Outdoor-Bekleidung erhalten. „Du bist auch ganz schön heiß“, sagt er mir direkt ins Gesicht. Ich bin es nicht unbedingt gewohnt, so offen angemacht zu werden – und daher erst einmal sprachlos. „Nur ein Scherz“ sagt Daniel mit einem Lachen, dem man gar nicht böse sein kann. Daniel hat, genau wie sein Mitbewohner Trisomie 21, das Down-Syndrom. Er sei offen bisexuell, erklärt er mir bei einer Tasse Kakao in seinem Zimmer. Kinder wolle er keine, generell sei er mit den Frauen erst einmal durch.
Dass Daniel so denkt, dürfte sein Umfeld erleichtern. Denn wie geht man mit dem Kinderwunsch von jemandem um, der selbst ständig auf Hilfe angewiesen ist?
Beim Verlassen der Wohngruppe bin ich froh, diese Frage nicht beantworten zu müssen. Mir fällt auf, dass ich vor diesen Begegnungen mit einigen Vorurteilen durchs Leben gegangen bin, obwohl ich mich als progressiven Menschen beschreiben würde. Das Wort „behindert“ als Schimpfwort zu benutzen, verbiete ich mir ab sofort. Und in einigen Punkten kann man die Bewohner der Strese wohl auch beneiden: Meiner WG würde es auch gut tun, jemanden zu haben, der darauf achtet, dass der Putzplan eingehalten wird.
Von Felix Mergemeier