Die Europäische Union befindet sich in ihrer größten Krise. Ein Gefühl des Zerfalls schleicht über den Kontinent und eine Lösung scheint nicht in Sicht. Doch was sind die Gründe, dass sich das Erfolgsmodell Europa im Rückwärtsgang befindet? Es mangelt nicht an blinkenden Notifications oder selbsternannten Experten, die die Lage der Europäischen Union mit 140 Zeichen erklären wollen. Aber es fehlen Hintergrund, Fachwissen, Kontextualisierung und der historische Vergleich.
Terminal Y hat deshalb mit Louisa Opitz, Doktorandin zum Thema European Governance an der FU Berlin, gesprochen. Neben ihrer Promotion an der FU arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für einen Bundestagsabgeordneten.
Terminal Y: Die belgische Region Wallonien hat es geschafft, die Verhandlungen um CETA zu verschieben und einige Veränderungen am Vertragstext zu integrieren. Wie sehen Sie dieses Einmischen einer Region in ein Freihandelsabkommen, das 28 Staaten betrifft?
Louisa Opitz: „Hier ist es zunächst einmal wichtig, sich vor Augen zu führen, dass eine solche Beteiligung der nationalen Parlamente in der Handelspolitik dann vorgesehen ist, wenn es sich um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt. Das bedeutet konkret, dass das ausgehandelte Abkommen zwischen der EU und einem Drittstaat auch nationale Zuständigkeiten betrifft.
Ein Handelsabkommen als gemischt einzustufen, hängt also zum einen von der konkreten rechtlichen Konstellation ab, von der Frage, was genau in dem Abkommen verhandelt wird. Nach allem, was ich gelesen habe, ist es aus rechtlicher Sicht durchaus vertretbar, CETA als gemischtes Abkommen einzustufen. Und auch aus politischer Sicht spricht einiges dafür, CETA als gemischtes Abkommen zu behandeln.
Die andere Seite der Medaille sind dann natürlich die praktischen Folgen, die ein Veto wie das des wallonischen Regionalparlaments haben kann. Ich sehe hier einen grundsätzlichen Zielkonflikt zwischen der Handlungsfähigkeit der EU auf der einen und den Prinzipen von rechtlicher Zuständigkeit bzw. demokratischer Praxis auf der anderen Seite.
Eine mögliche Lösung, um eine solche Situation in Zukunft vermeiden zu können und auf die vor allem von Juristen hingewiesen wird, sieht folgendes vor: Grundsätzlich ist es durchaus möglich und rechtlich umsetzbar, dass ein EU-Mitgliedstaat bei einem europäischen Handelsabkommen mit einem Drittstaat den Teil des Abkommens nicht mit trägt bzw. umsetzt, der in die mitgliedstaatliche Zuständigkeit fällt, was üblicherweise wohl der deutlich kleinere Teil eines solchen komplexen und umfassenden Handelsabkommens sein wird.
Der Teil des Handelsabkommens, für den die EU die alleinige Zuständigkeit hat, würde wiederum von allen EU-Mitgliedstaaten mitgetragen werden. Eine solche Lösung ist zwar wahrlich auch nicht unkompliziert, aber grundsätzlich möglich.“
Seit der Griechenland-Krise ist es medial sehr still geworden, können Sie uns ein kurzes Update zu der aktuellen Lage Griechenlands in der EU geben?
„Im August 2015 haben sich die Euro-Staaten und Griechenland auf ein drittes Hilfspaket geeinigt, das über einen Zeitraum von drei Jahren ausgezahlt werden soll und ein Volumen von bis zu 86 Milliarden Euro hat. Diese Mittel laufen über den ständigen Rettungsschirm ESM.
Das Paket ist an eine Konditionalität gebunden: Einzelne Tranchen aus dem Hilfspaket werden nur dann ausgezahlt, wenn die entsprechenden Reformmaßnahmen umgesetzt wurden. Hält Griechenland das Reformprogramm nicht ein, wird die Überweisung weiterer Hilfstranchen auf Eis gelegt.
Das Ziel all dieser Reformauflagen ist weiterhin, dass Griechenland seinen Haushalt konsolidiert und die heimische Wirtschaft durch grundlegende Strukturreformen wettbewerbsfähig macht. Der IWF ist an diesem dritten Hilfspaket bisher nicht beteiligt, sondern behält sich eine Beteiligung vor. Uneinigkeit zwischen den Euro-Staaten und dem IWF herrscht weiterhin bei der Frage, ob Griechenlands Schulden tragfähig sind oder ob das Land auf einen Schuldenschnitt angewiesen ist.“
Als die Kanzlerin vergangenes Jahr, angesichts der nahenden humanitären Katastrophe auf der Balkan-Route, die Grenze für eine große Zahl von Flüchtlingen öffnete, spaltete sich die Gesellschaft und es schien, als hätten ausländerfeindliche Gruppen sich dadurch in ihrer Position bestärkt gefühlt. Wie würden Sie rückblickend die damalige Grenzöffnung, mit all Ihren innen- sowie außenpolitischen Folgen, bewerten?
„Ich finde, dass die Fokussierung auf die damalige Entscheidung der Bundeskanzlerin suggeriert, dass wir heute keine ‚Flüchtlingskrise‘ hätten, wenn sie damals nur anders entschieden hätte. Das stimmt jedoch nicht.
Die Flüchtlingskrise ist keine Merkel-Krise
Es ist ja nicht so, dass sich die Menschen erst nach Merkels Entscheidung auf den Weg gemacht hätten. Inzwischen wurde dieser Eindruck zum Glück auch in den Medien etwas revidiert, indem Daten zu den Flüchtlingsbewegungen ausgewertet wurden, die zeigen, dass sich viele Menschen bereits im Frühjahr 2015 auf den Weg gemacht hatten.
Der Fokus auf Merkels damalige Entscheidung lenkt meiner Meinung nach von der grundsätzlichen und nicht zu leugnenden Situation ab, dass viel zu viele Menschen auf der Welt, vor allem im Nahen Osten und in Afrika, aufgrund der dortigen politischen Umstände und Lebensverhältnisse gezwungen sind, aus ihrer Heimat zu fliehen.
Dieser traurigen Tatsache müssen meiner Meinung nach alle Regierungen in der EU ins Auge blicken und sich politisch darauf einstellen, anstatt sich der Situation durch Grenzschließungen entziehen zu wollen. Das soll nicht naiv klingen. Mir ist absolut klar, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen eine große, langfristige und schwierige Aufgabe ist, die uns viele Jahre bzw. Jahrzehnte beschäftigen wird. Und auch die Aufnahme und Integration der Menschen, die vor Gewalt und Willkür nach Europa fliehen, stellt die Staaten vor große Herausforderungen. Aber Abschottung ist keine Alternative.“
Thema Brexit: Premierministerin May hofft auf einen weichen Ausstieg, die EU Abgeordneten und Minister deuten auf harte Verhandlungen und einen zähen Prozess hin. Welche Linie sollte Ihrer Meinung nach vertreten werden?
„Ich denke, dass die EU in den Verhandlungen mit Großbritannien erstens mit einer Stimme sprechen und zweitens konsequent auftreten muss. Die wichtigste Frage des Brexits betrifft wohl den Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Die EU hat ein intrinsisches Interesse daran, dass es einen spürbaren Unterschied macht, ob ein Land Mitglied der Union ist oder die Union verlässt. Deutlich gesagt: Mitglied der EU zu sein muss bestimmte Vorteile bringen, die ein Nicht-EU-Mitglied eben nicht hat. Wenn die EU in den Verhandlungen Großbritannien zu viele Zugeständnisse macht, wird das ihre Legitimation weiter schwächen. Die Frage wird also sein, zu welchem Preis Großbritannien Teil des Binnenmarktes sein kann und sein will.
Brexit: Nur wenn EU-Mitglieder besser gestellt sind, bleibt die EU erhalten
Noch wurde der Austritt aus der Union noch nicht einmal beantragt, die Verhandlungen über den Austritt sind rechtlich sehr komplex und werden Jahre dauern. Ich hege noch immer die leise Hoffnung, dass es noch anders kommt, z.B. dass es vor dem endgültigen Austritt Großbritanniens ein weiteres Referendum gibt, zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Fakten eines Austritts auf dem Tisch liegen und die Folgen wirklich abschätzbar sind.
Sehr interessant finde ich in diesem Zusammenhang auch die jüngste Entscheidung des Londoner High Court, demzufolge die britische Regierung das britische Parlament darüber abstimmen lassen muss, ob sie überhaupt die Austrittsverhandlungen mit der EU einleiten darf. Die britische Regierung will dieses Urteil anfechten. Es bleibt also spannend.“
Das Scheitern von TTIP, CETA, der Brexit, die Flüchtlingskrise uvm: würden Sie der Aussage zustimmen, dass die EU gerade in ihrer schwersten Krise steckt?
„Ja, dieser Aussage stimme ich zu. Auch wenn ich finde, dass das Wort Krise sich inflationärer Nutzung erfreut. Ich selbst habe (sicherlich auch aufgrund meines Alters) bislang keine vergleichbare ‚Krisenzeit‘ bewusst erlebt. Für mich beginnt diese Zeit mit der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise.
Auf der anderen Seite sollte man auch nicht außer Acht lassen, dass sich die europäische Integration stets in einer Art Wechselspiel von Integrations- und krisenbedingten Stagnationsphasen fortentwickelt hat. Es klingt vielleicht platt, aber aus Krisenzeiten kann auch Positives erwachsen.“
Welche Maßnahmen wären Ihrer Meinung nach nötig, um die EU wieder auf richtigen Kurs zu bringen und ihre Reputation zu stabilisieren?
„Das ist eine der zentralen Fragen, über die die Gelehrten verschiedener Disziplinen, politische Praktiker und Beobachter des Zeitgeschehens seit Jahren trefflich streiten und diskutieren. Ich denke, ein erster wichtiger Schritt wäre es, wenn die europäischen Regeln, die wir bereits haben, konsequent umgesetzt und angewandt würden.
Die EU braucht Politiker, die über ihre eigenen Interessen hinaus denken
Dazu gehört auch, dass die nationalen Politiker aufhören, die Schuld für politisch suboptimale Ergebnisse nach Brüssel zu schieben. Das ist ein Verhalten, das man immer wieder beobachtet und das nicht dazu geeignet ist, das Vertrauen der europäischen Bürger in die EU zurückzugewinnen oder zumindest zu stabilisieren.
Meiner Meinung nach kann die EU nur so gut sein, wie die nationalen Politiker, die sie gestalten. Was die EU braucht, sind nicht zuletzt Politiker, die bereit sind, über ihre persönlichen und innenpolitischen Interessen hinauszudenken. Damit will ich keinen naiven Vorstellungen weiterer übereilter Integrationsschritte das Wort reden. Doch braucht es überzeugte Europäer, die eine realistische Perspektive für die Zukunft der Europäischen Union entwickeln und auch den Mut haben, dafür einzustehen.“
Die letzte Frage: Mehr Zentralismus oder mehr Föderalismus: welche Idee halten Sie für sinnvoller?
„Das ist eine zentrale Frage, auf die es meiner Meinung nach keine einfache Antwort gibt. Ich denke zum jetzigen Zeitpunkt vor allem, dass die EU nicht einfach so weitermachen kann wie in den letzten Jahren. Weitere Integrationsschritte sollte man nicht übereilen.“
„Die EU ist kein Selbstzweck. Sie ist für ihre Bürger da“
Ich bin gleichzeitig davon überzeugt, dass die europäischen Mitgliedstaaten darauf angewiesen sind, zusammenzuarbeiten. Und dass diese (funktionale) Kooperationsnotwendigkeit in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter zunehmen wird. Und ich sehe auch einige (praktische) Vorteile in der Supranationalisierung.
Auf der anderen Seite sehe ich jedoch auch, dass sich immer mehr Menschen übergangen fühlen, dass es einen wachsenden Unwillen gibt, sich von ‚Brüssel‘ regieren zu lassen. Die EU war schon immer dem Vorwurf ausgesetzt, ein Projekt der europäischen Elite zu sein. Es scheint dieses diffuse Gefühl zu geben, die EU sei so etwas wie ein Handlanger der Globalisierung. Auf dieses Gefühl muss man reagieren.
Die EU ist kein Selbstzweck. Sie ist für ihre Bürger da, das ist ihr Zweck, ihre Existenzberechtigung. Und das muss spürbar sein für die Menschen.“
Von Celal Cagli
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