Das politische Deutschland war in den Anfängen des 21. Jahrhunderts von großen Reformen geprägt. Die von 1998 bis 2005 regierende rotgrüne Koalition unter Gerhard Schröder hat im Laufe ihrer Legislaturperioden viele Bereiche des Sozialstaates neu strukturiert. Für dieses Ziel, wurde eine große Anzahl an tiefgreifenden Reformen durchgesetzt.
Doch die Folgen der Reform werden heute kaum mehr thematisiert. Das kann einerseits daran liegen, dass seit dem Inkrafttreten mehr als eine Dekade vergangen ist oder an der Tatsache, dass sie für eine abgehängte Bevölkerungsgruppe, die weder in Vereinen organisiert ist noch Lobbyismus betreibt, tragische Konsequenzen hatte. Die Rede ist vom sogenannten Prekariat.
Unter dem Begriff „Prekariat“ versteht man jene Gruppe der Gesellschaft, die durch anhaltende Arbeitslosigkeit oder fehlender sozialer Absicherungen, dauerhaft von Armut bedroht ist. Jedoch reicht der Aspekt der Armut alleine nicht aus, um den Begriff Prekariat zu definieren: Bildungsferne, Mangel an Aufstiegswillen und schwierige Wohnverhältnisse sind weitere Eigenschaften, die man dem Prekariat zuschreibt.
8% der Deutschen leben in prekären Verhältnissen
Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006, macht diese soziale Schicht 8% der Gesamtbevölkerung aus. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten, handelt es sich um eine überwiegend heterogene Gruppe. Vom Arbeiter ohne Abschluss über den Dauerpraktikanten bis hin zum temporär eingestellten Privatdozenten: Prekarier sind ein globales Phänomen und eine Konsequenz der entsicherten Arbeitswelt.
Anfangs als Werkzeug entworfen, um Unternehmen mehr Flexibilität zu bieten, sind Minijobs, Zeitarbeit und befristete Beschäftigung zu einem Netzwerk zusammengewachsen, dass aus Teilen der ehemaligen Mitte moderne „Tagelöhner“ macht. Doch was hat der Zuwachs der prekären Beschäftigung mit der rotgrünen Koalition zu tun?
Die Agenda 2010 und die Folgen
Die „Agenda 2010“, im Volksmund oft vereinfacht „Harz-Reform“ genannt, umfasste eine Reihe von tiefgreifenden und umstrittenen Reformen. Das Vorhaben griff in fast jeden Bereich der Arbeitsmarkt-, Familien- und Bildungspolitik ein. Während in Sachen Bildung das Etat um 25 % erhöht und die lang erwartete BAfÖG-Reform in Kraft getreten ist, standen auch in der Familienpolitik große Veränderungen an. Durch den gezielten Ausbau von Ganztagsschulen und Steuervergünstigungen für Kinderbetreuung, förderte die Reform die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Doch die umstrittensten Veränderungen betrafen die Wirtschaft sowie den Arbeitsmarkt. Für hellen Aufschrei unter Gewerkschaften und arbeitnehmernahen Verbände, sorgte die Lockerung des Kündigungsschutzes. Zusätzlich senkte die Koalition die Lohnnebenkosten zugunsten der Arbeitgeber, da die nun entstandenen Mehrkosten für Sozialabgaben allein von den Arbeitnehmern getragen wurden.
Haben die Hartz-Reformen Schuld am Prekariat?
Ihren Namen im Volksmund verdanken die Reformen dem ehemaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz. Dieser wurde 2002 von der Regierung als Leiter der gleichnamigen Kommission eingesetzt, um die lang erwarteten Arbeitsmarktreformen zu konzeptualisieren. Unter ihm wurden Maßnahmen und Verschärfungen entwickelt, die Kritiker heute als einer der treibenden Kräfte hinter dem Anstieg der prekären Beschäftigungen sehen.
Für das Vorhaben der schnellen Integration von Arbeitslosen, wurde auf sogenannte „1€-Jobs“ gesetzt. Viele Kritiker sehen in diesem Modell eine erhebliche Belastung für die Binnenwirtschaft. Durch die Öffnung des Marktes für diesen Beschäftigungstyp wurden reguläre Stellen verdrängt. Kommunen setzten die Arbeitslosen oft dort ein, wo üblicherweise Handwerksfirmen die Arbeit entrichteten. Zusätzlich entstand durch dieses Instrument ein künstlich aufgeblähter Niedrieglohnsektor, der mit hohem Druck für Arbeitnehmer verbunden war.
Jobs um jeden Preis?
Hermann Adam, Diplom-Volkswirt und Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, weist auf die auch negativen Folgen der Agenda 2010 hin. Der zuvor genannte Niedriglohnsektor sei stark angestiegen und „drückte“ die allgemeine Lohnentwicklung. Zusätzlich, so Adam, habe die Leiharbeit die Belegschaft gespalten: in regulär Beschäftigte und Randbelegschaften, die für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt wurden und ohne festen Vertrag auskommen mussten. Auch die Hoffnung, dass Zeitarbeit als „Brücke“ zu regulären Beschäftigungen fungiere, habe sich nicht bewahrheitet.
Doch die Reformen hatten auch große positive Wirkungen, die sich besonders im Arbeitsmarkt und in der wirtschaftlichen Entwicklung in Krisenzeiten zeigten. Hermann Adam stellte gleich zu Beginn des Interviews klar: Die Agenda 2010 sei maßgeblich an der heutigen guten Wirtschaftslage beteiligt! Dabei erwähnte er auch andere wichtige Faktoren, die einen erheblichen Einfluss auf die positive Entwicklung hatten: die gut laufende Exportkonjuktur, die maßvolle Lohnpolitik der Gewerkschaften, sowie eine für den Arbeitsmarkt besonders günstige demografische Entwicklung.
Auf die Frage, was Hermann Adam anders gemacht hätte, wenn er Kopf der rotgrünen Regierung gewesen wäre, antwortet der Forscher: „Ich würde zeitgleich mit den Arbeitsmarktreformen den gesetzlichen Mindestlohn einführen, um von vornherein Lohndumping zu unterbinden. Außerdem müsste das Personal beim Zoll aufgestockt werden, um die Einhaltung des Mindestlohns besser zu kontrollieren. Verstöße gegen den Mindestlohn müssten härter bestraft werden, im Wiederholungsfall auch mit Gefängnis. Für Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen müssten mehr Mittel und Personal bereitgestellt werden. Aber auch der Druck auf Arbeitslose umzuziehen müsste vergrößert werden. Es darf nicht zugelassen werden, dass beispielsweise Arbeitslose in Mecklenburg-Vorpommern verbleiben, statt offene Arbeitsstellen in Baden-Württemberg anzunehmen.“
Von Celal Cagli
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