In den Fängen der Netzspinne: Ein Neuberliner fährt U-Bahn

Vom norddeutschen „Moin, moin“ zum „icke“ und „jut“: Seit ein paar Tagen bin ich Neuberliner. Natürlich war mir klar, dass sich Einiges ändern wird nach dem Umzug aus dem kleinen, handlichen Lübeck in die Großstadt Berlin. Doch dass mich ausgerechnet der viel gelobte Berliner Nahverkehr kalt erwischen würde, war mehr als eine Überraschung.

Rund 1.200 U-Bahnwagen schlängeln sich durch Berlins Untergrund und transportieren täglich etwa 1,4 Millionen Menschen von A nach B. Und plötzlich bin auch ich eine von diesen 1,4 Millionen. Eine von 1,4 Millionen, die von A nach B will, aber in C ankommt.

In meiner kleinen 213.000  Einwohner zählenden Heimatstadt gibt es weder U-Bahnen noch Straßen- oder S-Bahnen. In Lübeck fährt der ÖPNV auf der Straße. Berlin mit S- und U-Bahn ist für mich völliges Nahverkehrsneuland .

Es ist soweit, meine erste U-Bahn Fahrt. An der Station bleibe ich stehen. Vor mir ein Wirrwarr aus roten, braunen, grünen, orangen und blauen Linien, dazwischen ein Haltestellensalat vom Feinsten. Vor mir erstreckt sich auf einer Plakatwand Berlins Bahn- und Busverkehr, von vielen liebevoll „Netzspinne“ getauft. Ein Blick auf die Karte genügt und ein einziger überdimensionaler Gedanke formt sich in meinem Kopf: „Oh shit!“.

In den Fängen der Netzspinne

Wenig später sitze ich nervös auf dem altmodisch gemusterten Sitzpolster einer U-Bahn. Ich hoffe, dass es die U3 in Richtung Nollendorfplatz ist, 100 prozentig sicher bin ich mir da allerdings nicht. Abwartend schnappe ich Telefongespräche, Versöhnungsworte und Einkaufslisten auf, atme ungefähr 492 verschiedene Gerüche ein und frage mich, ob Deodorant in Berlin Mangelware ist.

Während ich die einströmenden Eindrücke verarbeite, spiele ich ein Spiel. Ich nenne es das Haltestellen-Ratespiel und spiele es immer dann, wenn mich die herumschwirrenden Wortfetzen wieder einmal aus meinem Zähltakt gebracht haben. Ich habe dann keine Ahnung, ob ich die nächste, übernächste oder schon vorletzte Haltestelle hätte aussteigen müssen.

Auch wenn ich das Verkehrsnetz von Berlin noch nicht ganz kapiert habe, ist mir immerhin sehr schnell klar geworden, dass meine Mit-U-Bahn-Fahrer ein besonderes Talent dafür besitzen, immer genau dann mit ihrer Stimme lauter zu werden, wenn die nächste Haltestelle durchgesagt wird. Aber ich sehe es positiv, dadurch wird das Spiel erst so richtig spannend.

„Achtung! Kurzzug hält hinten.“ Verdammt, wo ist hinten?

Als ich mal wieder gefühlte zehn Haltestellen zu weit gefahren bin, Google Maps mich mit der Begründung „Ihr Datenvolumen ist aufgebraucht.“ im Stich gelassen hat und die vorbeihastenden Menschenmengen keine Zeit oder keine Ahnung, geschweige denn Lust hatten mir zu helfen, entdecke ich auf einer Anzeige einen Satz, der ich stutzen lässt: „Achtung! Kurzzug hält hinten.“

Da liegt es doch nahe sich zu fragen – wo ist hier hinten? Kein Schild weist auf ein „vorne“ und ein „hinten“ hin. Und ich schaue im wahrsten Sinne des Wortes in die Röhre – wieder einmal.

Plötzlich glaube ich zu wissen, warum auf den U- Bahnen zu hundertfach das Brandenburger Tor abgebildet ist: Als Trostpflaster. Denn unter Umständen werden gewöhnliche Touristen das echte, große Brandenburger Tor nie zu Gesicht bekommen, da sie sich vorher erst einmal durch den Dschungel der Netzspinne haben kämpfen müssen.

Von Finja Schön

Bildnachweis: Von Wikimedia-User Jivee Blau [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

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