Eine unserer Autorinnen hat seit Jahren eine zweischneidige Affäre. Bei der anderen ist die Liebe gerade erst aufgeflammt. Schuld ist nicht etwa ein waschbrettbäuchiger Don Juan – sondern ein Heißgetränk. Auf den Spuren zweier Romanzen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Man stelle sich zwei Szenarien vor. Im Ersten hetzt eine Anfang 20-Jährige zur U-Bahn, flucht über Menschen, die auf der Rolltreppe herumstehen, den schimpfenden Obdachlosen und den miefigen Studenten-Stadtteil, in dem sie schon längst nicht mehr wohnen wollte. Im Zweiten sieht sie Großstadtcharme und freundliche Gesichter, schenkt dem Obdachlosen ein freundliches Lächeln und kommt gelassen im Büro an.
So oder so gestaltet sich mein Morgen. Je nachdem, ob ich mir gerade täglich Kaffee einflöße oder nicht. Ich heiße Diana und muss mir nach acht Jahren der genussvollen Selbstfolter eingestehen: Kaffee macht mich nicht gerade zu einem besseren Menschen. Genehmige ich mir ein Tässchen (oder fünf), bin ich zuweilen zwar produktiver, dafür aber spätestens abends ausgebrannt, mies gelaunt und von Kleinigkeiten viel leichter aus der Bahn zu werfen. Warum ich es nicht einfach sein lasse? Nun, als hätte ich es nicht versucht!
Das Kryptonit des Großstädters
Als Ex-Raucherin, Nicht-Trinkerin und (Trommelwirbel) Veganerin könnte man meinen, es sei für mich ein Leichtes, mit unglücklichen Gewohnheiten zu brechen. Was meinen heißgeliebten schwarzen Kaffee angeht, war ich jedoch mit meinem Latein am Ende. Mal um Mal wachte ich nach einer koffeinbetriebenen Hochleistungsphase mit Kopfschmerzen auf, schwor meinem zweischneidigen Langzeitbegleiter auf alle Zeit ab, um mich schließlich Tage, Wochen oder Monate später wieder der Sehnsucht hinzugeben. Dem Verlangen nach seinem herben Aroma, der bitteren Note, dem kaum merklichen Kick nach dem ersten Schluck, dem kleinen Energievorschuss, wenn der Abend mal später wird. Und dem unweigerlichen Rattenschwanz aus Stress, Streitsucht und Schlaflosigkeit, dem ich scheinbar als einzige zum Opfer fiel. Da war es wohl – mein persönliches Kryptonit.
Nach einigen dramatischen Ankündigungen, herben Niederlagen und den (verdienten) hämischen Kommentaren meiner Mitmenschen hatte der Frust die Schmerzgrenze erreicht. Wäre es eine andere Zeit gewesen als diese und man fände sich noch mit dem einen oder anderen Kleinleiden ab, ohne es gründlichst auf Potential zur Selbstoptimierung zu prüfen, hätte ich mich wohl einfach meinem Schicksal ergeben. Doch ich machte mich lieber auf die Suche nach Mitleidenden. Überraschenderweise fand ich diese nicht nur in anonymen Internetforen, sondern sogar in meinem ganz analogen Bekanntenkreis. Um der Sache auf den Grund zu gehen, holte ich mir meine vertraute Mitstreiterin in Gesundheitsfragen, Pauline, mit ins Boot und widmete mich endlich der Frage, die mir seit Jahren den Schlaf raubte: Was um alles in der Welt macht Kaffee so unwiderstehlich?
Kaffeegeschichten, Teil 1
Pauline (21): „Unwiderstehlich – das ist Kaffee für mich in jeder Version. Ich liebe Kaffee! Ich liebe es, wenn ich morgens meine French Press herunterdrücke und den duftenden Kaffee schlaftrunken in meine blau geblümte Lieblingstasse plätschern lasse. Ich liebe es, mich mit der warmen Tasse nochmal ins Bett zu setzen und mit jedem Schluck zu spüren, wie mein Körper wach wird. Ich liebe es, vormittags um elf mit Arbeitskolleginnen ein Kaffeepäuschen einzulegen - dann stellen wir uns in die Schlange unseres Lieblings-Coffeeshops und warten, bis der Barista den Milchschaum so wunderbar cremig gerührt hat, dass schon der Anblick glücklich macht... Dass ich das einmal sagen würde, hätte ich vor meiner Zeit als Berlinerin nie gedacht. Aber was soll man machen, wenn man als junges Mädchen in einer Stadt ankommt, in der jeder mit einem der schnabeltassenähnlichen Coffee-to-go-Becher herumläuft und sich für die Nachmittage „auf einen Kaffee“ treffen möchte? Richtig, man geht mit dem Strom und trinkt mit. Vom ersten Latte Macchiato mit (sehr) viel Kakaopulver bis zum genussvollen Nippen an einem Specialty Coffee vergingen Monate - doch nun ist Kaffee nicht mehr aus meinem Leben wegzudenken. Mal ist der Kaffee mein ganz persönlicher Genussmoment, mal ein anregender Drink, der das Gespräch mit dem Nachmittagsdate auflockert; mit hochprozentiger Milch auch mal ein echter Seelenschmeichler. Ich liebe Kaffee - und ich fühle mich gut dabei.“
Wie der Kaffee zu uns kam
Denken wir doch mal ganz logisch. Logik erscheint mir in dieser Sache mittlerweile ein guter Ansatz zu sein – schließlich haben mich Verleugnung, Trotz und rohe Gewalt nicht allzu weit gebracht.
Pauline bezeichnet sich als kaffeeverrückt, ich sehe mich da schon eher in der Kategorie „kaffeesüchtig“. Beide dieser Attribute sind nur damit zu begründen, dass der dunkle Trunk bei uns im Überfluss vorhanden ist. Das ist nicht nur die gefühlte Wahrheit, Kaffee ist tatsächlich omnipräsent: So verbraucht jeder Deutsche im Durchschnitt 6,4 Kilo Kaffeebohnen pro Jahr und kommt damit im Leben auf erschreckende 77.000 Tassen aufgebrühten Kaffees.
Bis der Kaffee unsere Wirtschaft – und unser Leben – derart dominierte, sind zehntausende Jahre vergangen. Der Quell des Kaffees als Getränk liegt nämlich so weit zurück, dass ihn nur noch Legenden dokumentieren. Ihnen zufolge waren die ersten, die in den Genuss von Kaffee und seiner stimulierenden Wirkung kamen, Kühe. Ein äthiopischer Mönch soll beobachtet haben, wie eine Viehherde nach dem Fressen der Früchte einer dunkelgrünen Pflanze besonders munter wurde. Als sozusagen erster Barista der Welt goss sich der Mönch die neu entdeckte Pflanze mit heißem Wasser auf und stellte fest, dass der Sud ihn wach zu machen schien. Belegt ist dieser Mythos zwar nicht – doch ist er auch nicht ganz abwegig.
Denn tatsächlich stammte die erste Kaffeepflanze aus Äthiopien. Die Pflanze mit dem aus diversen Kaffee-Werbungen bekannten Namen Arabica wächst auf natürliche Weise im afrikanischen Hochland auf 1.300 bis 1.800 Metern Höhe. Heutzutage sorgt dieses uralte Gewächs neben der Sorte Robusta für den Großteil der Kaffeebohnen in unseren Supermärkten und Coffeeshops: 70 Prozent der globalen Kaffeeplantagen bestehen aus Arabica-Pflanzen.
Kaffee als Genussmittel: Anfänge in Arabien
Die Kaffeequelle blieb lange Zeit unentdeckt, bis Mitte des 15. Jahrhunderts in Arabien der erste Kaffeegenuss verschriftlicht wurde. Von hier aus begann der Kaffeefluss im wahrsten Sinne des Wortes, langsam zu fließen – von Arabien aus bis in die Türkei.
Reisende nahmen das wertvolle Gut von dort aus mit in ihre Heimat – so begann die Pionierzeit des Kaffees in Europa. Kraftvoll bahnte sich der Kaffeefluss seinen Weg durch den ganzen Kontinent, bis im 17. Jahrhundert schließlich der Kaffeehandel begann. In großen Hafenstädten wie Amsterdam und Hamburg schlürften die Menschen – zunächst allerdings nur die wohlhabenden – bald schon Kaffee in den ersten Kaffeehäusern am Straßenrand.
Kaffeegeschichten, Teil 2
Diana (22): „Ich liebe Kaffee – und das schon seit ich denken kann. Vom ersten Schluck an, da war ich schätzungsweise 13 Jahre alt, passte kein Blatt mehr zwischen uns. Geschweige denn Milch und Zucker. Nur mein schwarzer Kaffee und ich, jeden Tag, für alle Zeit. Bis unsere Romanze eine unschöne Wendung nahm: Er tat mir plötzlich nicht mehr gut. Erst waren es einfach nur Kopfschmerzen, dann schlief ich immer schlechter. Experimentelle Abstinenz zeigte: Mein Lieblingsgetränk war plötzlich zum Erzfeind mutiert. Wie konnte das sein? Alle Versuche, seinem herben Charme zu widerstehen, sind bisher kläglich gescheitert. Kein Wunder: Schließlich lauert er überall! Ob beim Brötchenholen vom Bäcker, an der U-Bahn-Haltestelle oder bei Verabredungen zu Kuchen und, äh, Tee – wohin ich auch gehe, steigt mir sein betörender Geruch in die Nase. Ich komme einfach nicht von ihm los!“
Kaffee für alle
Bis dato kam der in Europa getrunkene Kaffee ausschließlich aus Arabien. Durch die Kolonialzeit aber verzweigte sich unser Kaffeefluss in die Kolonialstaaten, wo die klimatischen Bedingungen optimal für den Kaffeeanbau waren. Arabien konnte sein Kaffeebohnen-Monopol deswegen nicht länger halten und ab dem 18. Jahrhundert gab es schließlich auf der ganzen Welt Kaffeeplantagen. Kaffee war bald Volksgetränk Nummer eins mit teils wunderlichen Abwandlungen. So aßen arme Leute damals Kaffeesuppe, die länger sättigen sollte als herkömmliche Speisen.
Das Zeitalter der Pappbecher
Als Sattmacher für finanziell Benachteiligte ist Kaffee heutzutage längst nicht mehr im Gespräch. Der Espresso hat sich mittlerweile im Luxussegment angesiedelt – und wer in einem der deutschen Millennial-Ballungszentren wie Berlin lebt, wird in den letzten Jahren festgestellt haben, dass immer mehr kleine, recht dunkle Cafés mit Holzmobiliar und bärtigen Baristas aus dem Boden schießen. Zunächst als „Hipster-Cafés“ verpönt, ist mittlerweile klar, dass es sich dabei um „Third Wave Cafés“ handelt – Kaffeehäuser der neuen Generation.
In der Metropole Berlin passen MacBooks in Coffeeshops wie die Butter aufs Brot. Hier wird gearbeitet, vernetzt und natürlich Kaffee getrunken. Das St. Oberholz bringt dieses Konzept aufs nächste Level – mit einem mehrstöckigen Co-Working-Space inklusive Third Wave Café im Erdgeschoss.
Kaffee-Konjunktur: In drei Wellen zur Spezialität
Vor der „Third Wave“ schlug unser Kaffee-Fluss natürlich noch zwei weitere Wellen. Die Erste bäumte sich bereits im 20. Jahrhundert, mit Höhepunkt zwischen 1950 und 1970 und stand für vakuumiertes Kaffeepulver und Instant Coffee – passend zu einer Zeit, in der Mikrowellengerichte und Fast-Food-Ketten in ihrer Blüte standen.
In den Achtzigern hatten die ersten Genussmenschen schließlich genug des Billigpulvers – Kaffee sollte endlich zum Gaumenschmaus werden. Kaffeevariationen wie Latte Macchiato, Cappuccino oder Espresso, die man zuhause mittels Pads und Kapseln zubereiten konnte, lösten den schwarzen Filterkaffee ab. Dies hatte zur Folge, dass Coffeeshops, allen voran Starbucks, weltweit Erfolge feierten. Coffee to go aus mit falschen Namen beschrifteten Pappbechern war bald ständiger Begleiter und hippes Accessoire – und stehen heute symbolisch für die zweite Welle des Kaffeekonsums.
Doch die Massenproduktion hatte ein Problem: Irgendwie schmeckte alles gleich. Mit Sirup und jeder Menge Milchschaum war der Kaffee zwar süß und traf somit den Geschmack der meisten Kunden, doch eines übergingen die immer neuen Rezepte stets: Den Eigengeschmack der Kaffeebohne, der von Sorte zu Sorte, aber auch je nach Zubereitung verschieden ist. Die dritte Welle widmete sich also dem Wunsch nach Individualität und Präzision.
Denn seit diesem Umschwung gehen Kaffeegenießer dem originalen Geschmack des Kaffees auf den Grund – und zwar genauestens. Kleine, inhabergeführte Röstereien importieren fair gehandelte Kaffeebohnen, deren Ursprung die Kunden exakt nachverfolgen können. Schonende Röstverfahren verleihen unterschiedlichste Geschmacksnoten. Leidenschaftliche Manufakturen stecken deshalb ihre ganze Energie in die Röstung, um sich mit feinsten Kreationen zu profilieren.
Kaffeeröster aus Leidenschaft: Das ist Stefan Richter von der Berliner Kaffeerösterei. Hier ist alles Handarbeit, von der Auswahl der Bohnen über die schonende Röstung bis hin zum Aufbrühen des Spezialitätenkaffees. Warum nicht nur er, sondern auch seine Berliner Kunden das Gourmetprodukt trotz seines hohen Preises lieben, erklärt Stefan Richter im Video.
In Third Wave Cafés bereiten speziell ausgebildete Baristas die lokal gerösteten Bohnen mit handwerklichem Geschick und viel Raffinesse zum Kaffee 3.0 zu und lassen so die breite Masse am „Forschungsprojekt Kaffee“ teilhaben. Möglichst pur und simpel soll es sein, das spiegelt sich in allen Aspekten wider. Vom puristischen Mobiliar über die natürlichen Farben der Etiketten bis zur schweigsamen Bedienung lautet die Devise: Wenig ist genug. Ein solch aufwendig hergestelltes Produkt genießt man selbstverständlich nicht in Eile: Man nimmt sich Zeit, liest Zeitung – oder arbeitet. Wie die Retro-Holzstühle gehören zum Mobiliar eines Third Wave Cafés auch an MacBooks arbeitende Millennials.
Am Gipfel der Kaffee-Elite
Auf der Suche nach einer Erklärung für die stetig wachsende, nicht nur Millennials in ihren Bann ziehende Faszination des Kaffees begaben wir uns unter die Menschen, die Kaffee sogar noch mehr zu lieben scheinen als wir. So sehr etwa, dass sie ihrem Heißgetränkfavoriten seit Jahren sogar ein eigenes Großspektakel widmen. Sie sind Baristas, Cafébesitzer oder einfach passionierte Kaffeetrinker und tauschten sich vergangenes Jahr in Form von Workshops, Verkostungen und sogar einem Barista-Wettbewerb über ihr Lieblingsthema aus. Die Hauptstadt sei nämlich deutschlandweit der Hotspot schlechthin, wenn es um den gehypten „Specialty Coffee“ geht. Das verriet uns eine junge Barista aus Mecklenburg-Vorpommern, die speziell zum sogenannten Berlin Coffee Festival in die Stadt kam.
Jeremy Challender ist Mitgründer eines hippen Londoner Coffeeshops und nebenbei der amtierende „Brewer’s Cup Champion“ Großbritanniens. Das bedeutet, dass keiner im Vereinigten Königreich besseren Kaffee macht als er – zumindest keiner, der sein Können unter Beweis stellen wollte. „Giving a talk today 12pm @THEBARNBERLIN. The importance of competition, judging and career capital generated through ritual humiliation (dt. etwa: Heute um 12 Uhr spreche ich im THE BARN in Berlin über die Bedeutung des Wettbewerbs, Bewertungen und Karrierekapital aus ritueller Erniedrigung),“ twitterte Challender vor seinem Expertenvortrag in der kultträchtigen Kaffeebrauerei in Berlin-Mitte. Ein Vorgeschmack darauf, wie es um das Klima am Gipfel der Kaffee-Elite bestellt ist.
Die perfekte 3,5
Den Berliner Coffeeshop THE BARN gibt es seit Juni 2010. Im September 2012 ergänzte eine hauseigene Rösterei den Betrieb, die sich mittlerweile zu den Größen im deutschen Business zählt. Die Filiale in der Auguststraße ist lichtdurchflutet und mit schicken Holzmöbeln und massenweise Kaffeebohnen in Leinensäcken zugestellt – eine Traumkulisse für jeden Instagramer. Hinter dem Tresen stehen schöne Männer mit Tattoos, gestutztem Vollbart und Baumwollhemden, die seelenruhig vor sich hinarbeiten. Von der üblichen Hektik der gängigen Kaffeeketten keine Spur. Auch die Gäste wirken trotz Koffeinkonsum gelassen und sprechen souverän über Geschmacksnoten, Rösttechniken, der Kalibrierung von was auch immer und einer „perfekten 3,5“. Vielleicht dem Fettgehalt der Milch, spekulieren wir.
Schnell ist klar: Von Milchkaffee ist hier nicht die Rede. Das Kernstück der Barista-Kunst ist der Espresso – schwarz und ungesüßt, versteht sich. Der perfekte Schluck Kaffeevergnügen ist weder trocken, noch zu wässrig im Mund, in Windeseile angerichtet und dem Gast ansprechend serviert. Wer für dieses Handwerk eine 3,5-Punktewertung von der Jury erhält, gilt in der Szene als Gott. Die meisten Bewerber scheiterten jedoch bereits an der Zeitmarke, erzählt Challender.
Der Karriere als gefragter Barista steht dem britischen Champion zufolge meist nur eines im Weg – das empfindliche Ego der Kaffeekünstler. Zu groß sei die Angst vor der öffentlichen Demütigung, dem niederschmetternden Juryurteil mit etwa kläglichen zwei Punkten („durchschnittlich“). Deshalb trauten sich die meisten mit einer Kandidatur um den prestigeträchtigen Nationaltitel erst nach mehreren Jahren Berufserfahrung. Verschwendete Zeit, sagt Challender.
Vom Tellerwäscher zum Star-Barista
Er selbst habe ganz klein angefangen und sich das Kunsthandwerk, wie er es beschreibt, selbst beigebracht. Sein Rat an den Nachwuchs: „Fangt einfach irgendwo an!“ Oft sei der Einstieg nur als Küchenhilfe möglich, vor allem in Metropolen wie London oder Berlin, wo der Markt für Coffeeshops bereits übersättigt sei. Dann gelte es, jede Gelegenheit zu nutzen, um Kaffee zu kochen, die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und eine Reputation aufzubauen. Und dafür sei der Barista-Wettbewerb genau das Richtige.
Erfolgreichen Teilnehmern der Barista-Wettbewerbe winken bessere Jobchancen und Gehälter sowie ein hohes Ansehen in der Szene, erzählt Challender. Und diese erlebe gerade ohnehin einen Aufschwung. Unsere Frage, wie denn eine kleine Tasse Kaffee so viele Menschen in den Bann reißen kann, beantwortet der Brite so: „Es ist ein Produkt, das sich ständig weiterentwickelt. Als Specialty Coffee in den Neunzigern seinen Aufschwung erlebte, war es noch neu und aufregend.“
Während die Nische reifte, wurde sie immer populärer. So kam schließlich der Wettbewerbsfaktor hinzu und die Rückkehr vom Ein-Euro-Kaffee zum qualitativen Genusserlebnis. Den Hype um den Meistertitel vergleicht Challender mit anderen Veranstaltungen wie der „Weltmeisterschaft im Porridge-Kochen“oder der „BBQ-WM“. Von Haferbrei oder Grillgut hatten wir bisher aber noch keine Entzugserscheinungen.
Doping für die grauen Zellen
Auf der pragmatischen Seite des Spektrums ist von Qualität weniger die Rede: Laut der Berliner Zeitung trinken mehr als 80 Prozent der erwachsenen Deutschen im Schnitt nämlich 162 Liter im Jahr. Das sind etwa zwei große Tassen am Tag, die wohl eher von der heimischen Kaffeemaschine oder für etwas Kleingeld vom Bäcker nebenan stammen als vom Trendsetter-Coffeeshop. Ob es sich dabei überhaupt um eine gut verträgliche Menge handelt, lässt Wissenschaftler seit Jahrzehnten verzweifeln. Den hundertsten Artikel darüber, ob nun die dritte, fünfte oder neunte Portion Koffein den rechtfertigenden Schutz vor Herzinfarkten, Alzheimer oder Hautkrebs beschwört, liest der gemeine Bildungsbürger wohl nur noch, um sich kleinlaut das eigene Gewissen schön zu trinken.
Die Gründe für die Tasse zwischendurch können dabei ganz verschieden sein: Dem einen liegt es am Geschmack, dem anderen geht es um den Aufwach-Effekt (der manchen Studien zufolge wiederum ein Mythos ist). Und für wieder andere zählt Kaffee nun bereits so lange zum Alltagsrepertoire, dass sie den ursprünglichen Grund für ihren Konsum verdrängt haben. Fest steht: Kaffee ist – und das macht den Unterschied zu Haferbrei oder Bratwurst aus – ein Zweckprodukt. Und dieses wird auch heute noch hauptsächlich dazu eingesetzt, der eigenen Produktivität ein kleines Doping zu verabreichen.
Die Karrieremärtyrer
„Wissenschaftler sind hauptsächlich Installationen zur Umwandlung von Kaffee in Tabellen,“ scherzt der Teilchenphysiker James Beacham während seines Tedx-Vortrags in Berlin. Eine Analogie, die wohl vor allem bei der Generation Y Anklang findet. Laut einer GfK-Studie im Auftrag der Organisation Project: Time Off identifizieren sich gerade die 1981 bis 1997 Geborenen zunehmend mit dem Selbstbild des „Karrieremärtyrers“ – dem glorifizierten Stressschlucker, der den eigenen Job an erster Stelle sieht und sich selbst davor scheut, bezahlten Urlaub zu nehmen. Eine Einstellung, die Millennials zwar anderen Erkenntnissen zufolge schneller die gewünschte Karriereleiter hinaufkatapultiert, doch dabei ganz andere Herausforderungen auf den Plan ruft.
Einer Studie des amerikanischen TV-Senders USA Today legt nahe, dass die 18- bis 33-Jährige zum einen höhere Stresswerte aufzeigen als andere Bevölkerungsgruppen und zum anderen prozentual unter den Betroffenen von Depressionen, Angst- und Panikstörungen am häufigsten vertreten sind. Manche Forschungen verknüpfen den (Über-)Konsum von Koffein mit derlei Belastungssymptomen. Andere hingegen bezeichnen ihn sogar als präventiv.
Wundermittel Kaffee?
Ob gesundheitsfördernd oder -belastend: Kaffee gilt nach wie vor als der Arbeitsbegleiter schlechthin. Und das sehen nicht erst die Millennials so. Dass braungeränderte Kaffeetassen so häufig auf Schreibtischen zu sehen sind, hat verschiedene Gründe: Die einen möchten ihre Müdigkeit vertreiben, die anderen erhoffen sich eine erhöhte Konzentration. Wieder andere sind überzeugt, durch den Kaffee kreativere Ideen zu haben. Egal aus welcher Überzeugung heraus: Die Deutschen trinken viel und oft Kaffee. So oft, dass 18 Prozent sagen, sie seien süchtig danach; fast 50 Prozent sind zudem überzeugt, ohne Kaffee keinen Tag überstehen zu können.
Doch was ist dran am Mythos Kaffee? Macht er uns wirklich zu produktiveren Menschen? „Das stimmt tatsächlich und ist über die Wirkungsweise des Koffeins im Kaffee zu erklären“, erklärt Medizinstudentin Sabrina T. „Wichtig für die Wachheit und die Konzentrationssteigerung durch Koffein ist die Wirkung als Antagonist, also Gegenspieler, auf Adenosinrezeptoren im Gehirn“, so Sabrina.
Was hier zunächst kompliziert klingt, ist eigentlich ganz einfach: „Das Adenosin ist im Gehirn für die Müdigkeit zuständig. Es sammelt sich im Laufe des Tages im Gehirn an. Das Gefühl von Energielosigkeit verursacht das Adenosin, indem es sich an bestimmte Rezeptoren bindet und damit auf die Nerven wirkt. Koffein hat strukturelle Ähnlichkeiten mit Adenosin und bindet sich deshalb an den gleichen Rezeptor, löst aber nicht den Effekt aus, den das Adenosin auslösen würde. Koffein blockiert jetzt die Stelle, an die sonst das Adenosin binden würde – und deshalb fühlen wir uns auch weniger müde.“
Kaffee sorgt also tatsächlich dafür, dass wir uns wach fühlen, wenn unser Körper eigentlich ausruhen möchte: Wie das Öl eine angerostete Maschine wieder geschmeidig laufen lässt, verschafft auch Koffein einem müden Menschen wieder Antrieb. Ab einem gewissen Grad des Rosts bringt aber auch das beste Öl eine Maschine nicht mehr in Gang – und so kann auch Kaffee keinen Menschen ewig wach halten. Zwar erhöht Koffein auch bei Schlafentzug die Reaktionsfähigkeit, wie ein Experiment der Universität Zürich zeigt. Doch nach maximal drei Tagen fallen selbst stark koffeinierte Menschen in den Schlaf.
Des einen Freud’, des anderen Leid
So viel Kaffee, dass man davon stirbt, kann man eigentlich nicht trinken: Erst eine Unmenge von 15 Litern Kaffee am Tag gilt als fatal – die gleiche Menge Wasser führt aufgrund von akuten Elektrolytmangel aber auch zum Tod. Ein weltweiter Kaffeeverzicht wäre übrigens für viele nicht nur ein persönlicher Verlust, sondern auch ein gewaltiger für die Wirtschaft: Die Kaffeeindustrie mit all ihren Zweigen schafft auf der ganzen Welt für 120 Millionen Menschen Arbeit – wenn auch nicht immer zu fairen Bedingungen.
Die Lösung für das Suchtproblem liegt wohl trotz alledem auf der Hand: Zähne zusammenbeißen und beim Anflug einer frisch aufgebrühten Tasse Kaffee auf keinen Fall mehr aufmachen. Denn obwohl es sich hinter dem Sarkasmus nicht wirklich um ein existenzielles Dilemma handelt, hat die Wissenschaft gezeigt: Kaffee wirkt auf jeden anders – und auf manche leider nicht besonders gut.
Während die meisten Studien von einer einheitlichen Veranlagung gegenüber dem Kaffeekonsum ausgehen, kritisiert ein Forschungsprojekt der Harvard School of Public Health genau diesen Ansatz. „Wenn wir nur verstehen könnten, welche individuellen Unterschiede sich hinter dem Konsum und der Reaktion darauf verbergen, könnte dies enorme Auswirkungen auf das öffentliche Gesundheitswesen haben“, zitiert das US-Medium Bloomberg die leitende Studienautorin, Marilyn Cornelis. Ihre Forschung hat ergeben, dass eine genetische Anlage mit sechs Variablen dafür verantwortlich ist, wie gut Koffein im Körper verstoffwechselt wird. Wie stark diese jeweils ausgeprägt sind, ist von Mensch zu Mensch verschieden.
Das Resultat dessen ist eben das Spektrum, das wir auch im Alltag erleben: Dem einen bekommt die morgendliche Tasse gut, der nächste beteuert, er hätte vom vermeintlichen Aufwacheffekt noch nie etwas spüren können. Und wieder andere erleben eine Reihe von Nebenwirkungen – begonnen mit Reizbarkeit und Schlafstörungen, über Magenprobleme bis hin zu Hautausschlägen. Experten sprechen dabei je nach Schweregrad von Überempfindlichkeit oder gar einer Allergie.
Auf den eigenen Körper hören und im Zweifelsfall verzichten, ist auch hier die Devise. Klingt zu einfach, um schön zu sein. Ich werde wohl noch lange mit einer Spur Wehmut in Paulines Tasse schielen. Doch wie die meisten Affären ist auch diese an den Punkt angekommen, an dem wir uns entscheiden müssen: Für oder gegen den bitteren Nachgeschmack, den die „heißen Stunden“ nach sich ziehen. Ich, für meinen Teil, werde dich, lieber Kaffee, nicht mehr anrufen. Außer vielleicht an den Morgen, an denen ich mich besonders einsam fühle.
Text und Video von Pauline Schnor und Diana Kabadiyski
Bildnachweis: Titelfoto: Unsplash/Blake Richard Verdoorn
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