“Als Tourist ist es wunderbar. Hier zu wohnen ist nicht so toll”, stellt Wahlberlinerin Michaela S. fest. Große Erwartungen treiben immer mehr junge Menschen in die Metropole. Umso ernüchternder, wenn die neue Heimat sie nicht mit offenen Armen empfängt.
„Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin“. Bereits im 19. Jahrhundert entstand dieses beliebte Leitmotiv in Anlehnung an eine Operette von Franz Suppè. Heute ziert es die gängigen Touristenandenken, von Jutebeutel bis Küchenmagnet. Zum Hauptstadtleben berufen fühlen sich viele und unterschätzen oft die Startschwierigkeiten, die der Ortswechsel mit sich bringt.
Berlin bietet viel, verlangt aber auch einiges ab. Wer den Umzug in die Hauptstadt wagt, wird häufig von Kontrasten überrumpelt. Denn Großstadtmentalität ist anders, schnelllebig und unverbindlich. Jährlich strömen tausende Neuberliner in die Hauptstadt und hoffen auf ein neues Leben. Der Frust ist groß, wenn die zunächst beflügelnde Anonymität in Einsamkeit umschlägt.
Über 3,5 Millionen Berliner verzeichnet das Einwohnermelderegister zum Ende des Jahren 2013. Jährlich kommen per Saldo 50.000 neue Einwohner hinzu – Expansion auf Rekordniveau. Vor allem 20- bis 30-Jährige zieht es in die Hauptstadt. “Berlin ist einzigartig, aber nichts für mich”, gesteht Studentin Hannah S. und tritt wie viele andere wieder die Heimreise an.
Allein unter Berlinern
„Es ist relativ schwierig, andere Leute kennenzulernen. Die Berliner ticken einfach anders und bleiben sehr unter sich.“ Krankenschwester Michaela S. zog zusammen mit ihrem Freund in die Hauptstadt und konnte bislang kaum Kontakte knüpfen. Sie denkt, dass es vor allem an der Größe der Stadt liegt.
Mazda Adli, Leiter des Forschungsbereiches Affektive Störungen an der Berliner Charité, bestätigt: „Es ist die Mischung aus sozialer Dichte und Isolierung, die den Stadtstress ausmacht.” Wer das Freizeitangebot der Hauptstadt auskosten möchte, ist viel unterwegs und trifft täglich neue Menschen. “Ich habe das Gefühl, dass man hier gar nicht das Bedürfnis hat, Bekanntschaften zu pflegen”, erzählt Auszubildende Deborah W. „Ich habe bereits am Anfang sehr viele Leute kennengelernt, doch wenige zweimal gesehen.”
Gerade für Zugezogene ist die Situation besonders anstrengend. Der Spagat zwischen dem vertrauten Umfeld in der Heimatstadt und der Fülle an neuen Kontakten bringt einen schnell aus dem Gleichgewicht. “Da ist es verständlich, dass man sich nach Konstanten sehnt, mit denen man gemeinsam den Überblick behält”, so Psychologe und Freundschaftsforscher Hans-Joachim Eberhard.
Netzwerke schaffen
Vor allem im Großstadtreiben sind Bezugspersonen von großer Bedeutung und doch schwieriger zu finden. Eine Studie des Bundesverbands für Wohnen und Stadtentwicklung stellt fest, dass Identifikation und Beziehungsnetze heute weniger räumlich definiert sind. Ein dichtes Transportnetz ermöglicht, mühelos zwischen Arbeitsplatz und Freizeitgestaltung zu pendeln – das Wohnviertel ist für Berliner selten der Lebensmittelpunkt.
Wenn die emotionale Bindung auf der Strecke bleibt, hilft es wenig, sich auf die Nachbarschaft zu beschränken. Denn Zugehörigkeit entsteht meist über Gemeinsamkeiten, geteilte Interessen und Zielsetzungen. „Jeden Abend bietet die Stadt unzählige Veranstaltungen und damit die Chance, neue Menschen kennenzulernen“, erzählt Student Kevin P. Man sucht Kontakte, die sich in die gleiche Richtung entwickeln möchten. Psychologischer Berater Bernd Nixdorff rät zu Hochschulsport, Vereinsmitgliedschaften und politischem Engagement. Nichts schafft mehr Nähe, als sich gemeinsam mit anderen für etwas einzusetzen.
Raum zum Selbstgestalten
Wer in Berlin ankommen will, braucht Geduld und vor allem Eigeninitiative. „Aller Anfang ist schwer”, gesteht Kevin, “Doch man sollte die Hoffnung nicht aufgeben. Man ist in dieser Stadt nicht allein auf der Suche nach Anschluss.“
Mit etwas Glück klappt es schon auf Anhieb. „Bei mir ging das Einleben ganz schnell“, berichtet Kristina H. „Hier habe ich die Freiheit, ich selbst sein zu können, weil es so viele unterschiedliche Menschen gibt. Jeder kann sein Leben so gestalten, wie er mag. Der Umzug nach Berlin war eine meiner besten Entscheidungen.“
Von Diana Kabadiyski