Man schlürft grüne Smoothies und lacht über Unworte wie “Teilzeitvegetarier” – schleichend erobert der tierfreie Trend die Hauptstadt. Denn auch ohne Fleisch, Milch oder Eier kommt der Genuss hier nicht zu kurz. Ob kulinarische Revolution oder Eintagsfliege: Vegan ist Kult. Und wo Kult ist, ist Berlin nicht weit.
“Nicht alle Latten am Zaun”, dachte Jan Bredack einst über Veganer, bis er aufgrund eines Burnouts umdenken musste. Heute ist er Gründer der Veganz-Supermarktkette und Aushängeschild eines Trends, der derzeit vor allem die Hauptstädter begeistert.
Berlin gilt in Europa als der vegane Hotspot schlechthin. 26 Restaurants und Cafés mit ausschließlich tierfreiem Angebot findet man in der deutschen Hauptstadt, so viele wie in Paris und London zusammen. Sei es die Not des Großstädters, an der sich die Begeisterung für das Außergewöhnliche nährt – immer mehr Menschen wagen sich hier an den grünen Lifestyle heran. “Am Anfang war das ganze katastrophal”, erinnert sich Kochbuchautor Attila Hildmann zurück, der vor nicht allzu langer Zeit sein Sojaeis noch am anderen Ende der Stadt beziehen musste. Deutschlandweit leben heute 800.000 Veganer, schätzungsweise 25.000 davon in Berlin – Zahlen, die erst Eindruck schinden, wenn man bedenkt, dass sie sich seit 2008 verzehnfacht haben.
Vom Risiko zum Kassenhit
2008 eröffnete das La Mano Verde in Charlottenburg, laut Inhaber Jean Jury ein Auftakt. Aus Imagegründen warb das Restaurant zunächst mit Feinkost auf “Pflanzenbasis”, denn ein Marktvolumen von 0,01% wirkte nicht gerade vielversprechend. Ein neues Konzept musste her, selbst fachkundiges Personal war kaum aufzufinden. “Die meisten kommen aus meiner Küche”, sagt Jury heute über seine Kollegen. Ob nun im gutbürgerlichen Kopps in Mitte oder im innovativen Lucky Leek im Prenzlauer Berg, “Die haben alle bei mir gearbeitet, wir haben hier etwas angefangen.” Auch im Einzelhandel wird man mittlerweile problemlos fündig. Während immer mehr Discounter die beliebten Ersatzprodukte ins Sortiment aufnehmen, spezialisiert sich das Veganz auf ausschließlich vegane Trendartikel. Die Supermarktkette, ebenfalls mit Berliner Ursprung, ist mittlerweile an sieben deutschen Standorten sowie in Wien und Prag vertreten. Ex-Daimler-Manager Jan Bredack investierte 2011 in die erste Filiale und landete prompt einen Erfolg. Sein Konzept ist es, vegane Ernährung gesellschaftstauglicher zu machen, “ohne missionarische Ansätze, ohne Druck”. Dabei werden vor allem auch Nicht-Veganer angesprochen, die einen Blick riskieren möchten oder sich für Unverträglichkeiten rüsten.
Leben und leben lassen
Weg vom Bild des rastalockigen Tierrechtsaktivisten also. Was sich marketingtechnisch als wirksam erweist, stößt allerdings im Kern der Community auf Granit. “Aus der Szene würde niemand bei uns einkaufen”, gesteht Bredack. Nicht nur medial stehen die hochprozessierten Käse- und Fleischalternativen unter Beschuss. Der ethisch motivierte Veganer kritisiert die preislich kaum erschwinglichen Importprodukte, einen Großteil des Sortiments, steht auch ungern Schlange hinter dem lactoseintoleranten Geschäftsmann mit Ledertasche. Schließlich geht es den meisten Veganern um mehr als nur das eigene Wohlbefinden. Über Social Media rufen Engagiert zu Protesten gegen Massentierhaltung auf oder weisen auf Informationsveranstaltungen hin. In der größten Facebook-Gruppe diesbezüglich tauschen sich fast 3000 Mitglieder aus. Darüber, wo es die beste Pizza gibt, welches Tattoo-Studio vegan Tinte verwendet, welche Kosmetikmarken auch sicher auf Tierversuche verzichten. Manche sind wütend, die meisten jedoch lediglich um Fortschritt bemüht. “Vegan sein bedeutet friedfertig sein, mit Tieren, aber auch mit Menschen”, erklärt eine Nutzerin.
Vegan ist Geschmacksache
Nicht überall kann sich der Trend zum leidfreien Konsum durchsetzen. Laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sei der Verzicht auf tierische Lebensmittel für Kinder ungeeignet und seit der Reform des Schulessens im Februar 2014 an Berlins Grundschulen unzulässig. Nicht akzeptabel, finden vegane Eltern. “Meine Tochter macht das aus ethischen Gründen”, so ein Kindsvater. Und diese stehen jedem frei.
Von Diana Kabadiyski