Wie junge Juden in Deutschland leben

Das Leben der Anderen: Junge Juden in Deutschland

Das Judentum ist für viele in Deutschland ein Mysterium, ein böser Gedanke an die Vergangenheit, den Krieg, und an die Vernichtung. Das Wort „Jude“ liegt in Deutschland oftmals schwer auf der Zunge. Meist wird dieses Wort mit einem Klischee in Verbindung gebracht, in das junge Studenten und „normale“ Leute nicht reinpassen – denn Juden sind angeblich „anders“.

Läuft man durch Berlin erinnert das Mahnmal in Mitte immer noch an die Shoah – den Holocaust, bei dem 6 Millionen Juden ermordet wurden. Heute leben in Deutschland circa 116.000 Juden, das macht 0,14% der jüdischen Weltbevölkerung aus. 50.000 Juden allein leben in Berlin, darunter auch knapp 30.000 jüdische Israelis. Sie alle haben ihre jüdische Identität gemeinsam, doch wie und ob sie ihre Religion und Kultur ausleben, ist für viele eine offene Frage.

Die jüdische Community in Deutschland hat unzählige Möglichkeiten und Angebote für Juden jeden Alters, die es ihnen ermöglichen neue Leute kennenzulernen und ihre Freizeit zu gestalten: Darunter Morasha, Hillel, Moishe House, Taglit und weitere. Sie alle formen das junge, jüdische Leben in Deutschland. Terminal Y hat nachgefragt und herausgefunden, wie sich junge Juden in Deutschland fühlen und wie sie ihre Religion leben.

Amelie, 21, Studentin:

„Ich bin von klein auf jüdisch erzogen worden. Meine Eltern sind mit mir und meinen Geschwistern jeden Samstag in die Synagoge gegangen, haben dort die Gemeinde sogar mitbegründet. Wir verstehen uns als liberal und stehen damit für die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Gebet. Sie dürfen demnach zusammensitzen und auch die Frau darf aus der Thora lesen. Mit dieser Ausrichtung habe ich auch meine Bat Mitzwa gemacht, d.h. ich habe einen Großteil der Zeremonie selbst bestritten, gesungen und gelesen. Ich komme außerdem aus einem koscheren Haushalt. Auch als Studentin, obwohl ich jetzt in einer WG lebe, halte ich mich weiterhin daran.

Natürlich hat mich auch die jüdische Grundschule sehr geprägt. Nicht nur weil wir Fächer wie Hebräisch und Thora hatten und die Feiertage feierten, sondern auch weil es sich dort wie Familie anfühlte und einige Freundschaften bis heute halten. Es ist eine Gemeinschaft, in der man nicht ständig erklären muss, warum man was jetzt so und so macht.

Das war später im Gymnasium anders. Da war man wieder die Andere, die, zu der man sich umdreht, wenn Israel zum Thema wird, oder verwirrt fragt, warum sie in der Mensa kein Fleisch isst. Auf der einen Seite freut man sich, dass andere interessiert sind, auf der anderen Seite ist es nervig, in einer Dauerschleife immer die gleichen Fragen zu beantworten.

Seit es die JSUD (Jüdische Studentenunion Deutschland) gibt, fühle ich mich besser repräsentiert. Sie macht sich für jüdische Menschen im Studentenalter stark und bezieht als Organisation und einheitliche Stimme der jungen Juden in Deutschland Position, z.B. indem sie Forderungen an die Politik stellt und auf wichtigen Veranstaltungen vertreten ist. Nichtjüdische Menschen registrieren plötzlich, dass es uns überhaupt gibt, dass Juden nicht nur vor dem zweiten Weltkrieg in Deutschland gelebt haben, und dass sie vielleicht sogar vielfältiger sind, als gedacht. Es sind nicht nur Klischee-Juden, wie man sie so oft in Karikaturen oder im Fernsehen darstellt, sondern einfache Studenten der Geisteswissenschaft, des Bauingenieurwesens, der Architektur und anderer Fächer.

Es gibt immer mehr Infrastruktur in der jungen jüdischen Welt, denn auch einzelne Bundesländer haben sich zusammengetan um jüdischen Verbände zu gründen. So können durch die Vernetzung die jungen Leute einfacher mobilisiert werden und Regionen-übergreifend Treffen stattfinden.

Ob ich mich aufgehoben fühle ist eine schwierigere Frage. Ich denke schon, dass Deutschland meine Heimat ist. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich habe ein Auslandsjahr in Israel verbracht und dort gemerkt, dass ich zwar das Land sehr mag, ich mir aber meine Zukunft dort nicht vorstellen kann. Klar macht mir deshalb die sich verändernde Stimmung in Deutschland Angst. Auch ich bin vorsichtiger und trage keine offensichtlichen Zeichen, die mich als Jüdin identifizieren. Es ist gut, dass die antisemitischen Vorfälle jetzt öfter publik gemacht werden, denn nur so kann ein öffentlicher Diskurs stattfinden und nur so kann die Politik direkt darauf reagieren und die Gesellschaft sich selbst reflektieren.

Wie junge Juden in Deutschland leben
Die Tefillin legt man täglich an, um den Kopf (Verstand), das Herz (Seele), und die Hände (Taten) ins Gleichgewicht zu bringen. Mehr Infos dazu hier.

Die Auslebung der Religion klappt, aber eben nur mit Sicherheitsvorkehrungen. Polizei vor einer Synagoge oder anderen jüdischen Einrichtung ist normal. Mit dem Hintergrundwissen, dass man angegriffen werden könnte, tragen Juden die Kippa nicht öffentlich sichtbar.

Jüdische Feiertage werden nicht wie christliche nach außen getragen. Ein öffentlich praktizierendes Judentum in Deutschland gibt es in der Weise nicht. Es ist mehr ein internes jüdisches Zusammenleben. Das finde ich schade, weil das den nicht-jüdischen Menschen vermittelt, dass das Judentum irgendein Mysterium ist und die Juden ein geschlossener Kreis.

Das Angebot für junge Juden ist breit gefächert. Es gibt Hillel, Morasha, ZWST, ZJD, Jung und Jüdisch und weitere.

Dass es in fast jeder größeren Stadt die Hochschulgruppe Hillel Hub gibt, ist bereichernd. Gemeinsam kann man so mit anderen Studentengruppen zum Beispiel Interreligiöse Veranstaltungen organisieren und einen Erfahrungsaustausch durchführen. Dieser Austausch in einem Deutschland, in dem der Anteil der jüdischen Bevölkerung bei 0,02 Prozent liegt, ist für mich wichtig.“

Hillel ist die größte jüdische Studierendenorganisation der Welt und an 550 Universitäten vertreten. In sogenannten „Hillel Hubs“ werden Veranstaltungen und Get-Togethers organisiert, speziell auf jüdische Studenten zugeschnitten.

Morasha ist eine weitere Studentenorganisation, die seit über zehn Jahren ein Netzwerk für jüdische Studenten und junge Menschen in Deutschland bereitstellt. Sie bereichert nicht nur das soziale Leben durch wöchentliche Events, sondern bietet auch jüdischen Unterricht, Studienreisen, und sogar ein Wohn – und – Lernprogramm in Berlin an.

Judentum in Deutschland
Judentum in Deutschland

Moishe House ist eine 2006 in Kalifornien gegründete Organisation. Weltweit gibt es 106 Moishe Houses in 26 Ländern. In Deutschland befinden sich zwei Moishe Houses, eins in Mannheim und eins in München. Ein Moishe House ist eine Wohngemeinschaft, bestehend aus drei bis fünf jüdischen Mitbewohnern, die wöchentlich ein bis zwei jüdische Events in den eigenen vier Wänden organisieren und veranstalten. Dafür zahlt die Organisation einen Teil der Miete, Budgets für Veranstaltungen, und gibt Kurse und Trainings für Moishe House Bewohner. Die Idee dahinter ist, dass Juden in ihren 20ern etwas aktiver zur jüdischen Community beitragen können, da es in ihrer Altersklasse wenige vergleichbare Möglichkeiten gibt. Jedes Moishe House ist anders und veranstaltet einzigartige Events.

Tyron, 27, Resident des Moishe House München

„Ich fühle mich in Deutschland gut aufgehoben, mit Abstrichen. Repräsentiert fühle ich mich ein bisschen durch den Zentralrat der Juden, allerdings nicht durch eine politische Organisation. Auch bei einem öffentlichen Ausleben meiner Religion würde ich körperliche Angriffe befürchten. Wünschenswert wäre eine Situation, in der jüdische Einrichtungen keinen Polizeischutz brauchen.

Durch das Moishe House habe ich jedoch die Möglichkeit meine Religion mehr auszuleben. Mehrere jüdische Events zu veranstalten, wie beispielsweise Havdalah* zünden an Samstag Abenden, gibt mir auch die Möglichkeit das Judentum mehr auszuleben als sonst üblich. Durch das Einladen von anderen Leuten haben wir auch die Möglichkeit einen Beitrag zum jüdischen Leben in München zu leisten. Die Mischung an Residents macht unser Moishe House einzigartig.“

*Havdalah (hebräisch für „Teilung“) ist der Ausgang von Shabbat, der Samstag nach Einbruch der Dunkelheit stattfindet. Dabei werden unter Anderem Segen aufgesagt, eine Kerze angezündet, und Wein getrunken.

Polli, 24, Resident des Moishe House München

„Ich finde mich als Jüdin in Deutschland nicht repräsentiert, dennoch aufgehoben. Ich glaube daran, dass in Deutschland jüdisches Leben existieren sollte. Dadurch, dass ich in München lebe, finde ich eigentlich schon, dass ich meine Religion so ausleben kann, wie ich es möchte. Trotzdem habe ich seit 2014 keine Hamsa oder einen Davidstern öffentlich getragen.

Im Moishe House ist es sehr schön, dass man denselben Freundeskreis hat und die jüdische Religion uns zusammenhält. Wir entgegnen jedem mit Akzeptanz und sind offen für Alle. Egal ob halachisch* oder nicht, mit jüdischem Partner oder nicht-jüdischem…. Es gibt einen Ort der Aufgeschlossenheit. Es gibt anderen die Möglichkeit ihr Judentum mit Gleichaltrigen in unseren 4 Wänden auszuleben.“

*Halachisch bedeutet nach jüdischen Gesetzen.

Danat, 27, Controller:

„Ich bin bereits als Kind relativ jüdisch erzogen worden, ging in den jüdischen Kindergarten und dann in eine jüdische Grundschule in einer mittelgroßen Stadt in der Ukraine. In Deutschland angekommen, gab es in einer bayerischen Stadt leider keine Möglichkeit mehr in eine jüdische Schule zu gehen. Nichtsdestotrotz sind wir von der jüdischen Gemeinde mit viel Unterstützung aufgenommen worden. Später ging ich dann mit meinen Eltern und meinem Bruder immer öfter in die Synagoge und bekam Unterricht vom Rabbiner der Stadt.

Ich fühle mich als Jude ganz gut in Deutschland aufgehoben. Ich habe das Gefühl, dass das Judentum in den letzten Jahren immer „bekannter“ wird. Vor allem bei der jüngeren Bevölkerung, denen entweder die historischen Ereignisse nicht wirklich nahegebracht wurden, oder die sich dafür schlicht nicht interessieren, habe ich in den letzten Jahren den Eindruck, als wüssten sie zumindest grob worum es sich beim Judentum handelt. Fragen wie „Ach wirklich, du bist Jude? Euch gibt es noch?“ waren in der Vergangenheit jedoch trotzdem keine Seltenheit.

Die Tefillin legt man täglich an, um den Kopf (Verstand), das Herz (Seele), und die Hände (Taten) ins Gleichgewicht zu bringen. Mehr Infos dazu hier.

Für mich ist das Judentum nicht nur eine Religion. Es ist vielmehr ein Glaube und eine Lebensart. Somit fühle ich mich in der Ausübung meiner Lebensart bislang nicht begrenzt. Das haben wir wohl der aktuellen Einstellung und Lage in Deutschland zu verdanken. In anderen europäischen Ländern sieht es noch immer ganz anders aus, wie man hört. Dass man nicht in jedem Stadtteil öffentlich keine Kippa tragen sollte, stört mich nicht, denn dafür gibt es andere Kopfbedeckungen wie einen einfachen Hut oder eine Mütze, die die Kippa verdecken würde. Allerdings habe ich nicht das Gefühl, dass man sich als Jude oder Jüdin in Deutschland nicht erkenntlich zeigen könnte. Ich fühle mich in Deutschland also nicht eingegrenzt bei der Auslebung meiner Religion. In Gegenteil, mittlerweile existieren immer mehr Organisationen in Deutschland, die vor allem junge Juden jeder „Art“ genau da abholen wo sie sind. Ob sie religiös sind oder nicht, ob sie bereits viel wissen, oder noch nicht, ist unwichtig. Es geht darum die Menschen zusammenzubringen und zusammen zu lernen, Feiertage zu feiern und zu wachsen. In meinem Fall habe ich durch einige Organisationen wie die regionalen Studentenverbände, Morasha, Moishe House, und Andere viele Freunde und gute Bekannte gewonnen. Durch die Organisation Taglit, welche mir und vielen jungen Juden eine unglaubliche und lehrreiche Reise nach Israel geboten hat, habe ich sogar die Frau fürs Leben gefunden.“

((Bild 1)) ((Bild 2)) ((Bild 3)) Bildunterschrift: Die Tefillin legt man täglich an, um den Kopf (Verstand), das Herz (Seele), und die Hände (Taten) ins Gleichgewicht zu bringen. Mehr Infos dazu hier:
https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/834637/jewish/Tefillin.htm

Taglit ist hebräisch für „entdecken“, so lautet auch der Name der im Jahre 2000 gegründeten Non-Profit Organisation, die Juden im Alter von 18-27 Jahren auf eine kostenlose Reise nach Israel einlädt. Taglit – Birthright Israel, basiert auf der Idee, dass jeder Jude das Geburtsrecht hat mindestens einmal im Leben Israel zu besuchen, und bietet voll gesponserte Studienreisen an.

Sarah, 20, Studentin

„Ich wurde nicht religiös erzogen, dass ich Jüdin bin habe ich erst relativ spät erfahren. Wirklich begriffen, was das bedeutet, habe ich sogar noch später. Mit 12 habe ich angefangen mich mehr damit auseinanderzusetzen und versucht jüdische Feiertage in mein Familienleben zu integrieren. Im letzten Jahr hatte ich durch meine Taglit-Reise die Möglichkeit mehr junge Juden wie mich kennenzulernen und habe seitdem viel über meine Religion und meine Herkunft gelernt. Ich versuche momentan Stück für Stück jüdischer zu leben und noch mehr zu lernen.

Deutschland ist meine Heimat in der ich mich auch aufgehoben fühle, jedoch fühle ich mich nicht wirklich repräsentiert, weder durch Politiker, noch durch politisch engagierte Organisationen. Sobald Andere erfahren, dass man jüdisch ist, wissen diese meistens nicht, wie sie damit umgehen sollen. Ich fühle mich manchmal wie ein Außerirdischer, obwohl jüdisch zu sein natürlich nichts Beängstigendes sein sollte. Ich habe auch keine Angst davor meine jüdische Herkunft zu zeigen, indem ich zum Beispiel einen Davidstern trage. Bis jetzt hatte ich auch nur wenige Probleme oder wurde aufgrund des Davidsterns beleidigt. Daher denke ich, dass ich meine Religion so ausleben kann, wie ich möchte. Man hat auch durch Organisationen wie Morasha und Moishe House die Möglichkeit neue Leute kennenzulernen, sich zu vernetzen, auszutauschen, und Zeit zu verbringen – Das ist für mich eine große Bereicherung.“

Sie alle sind einzigartige Menschen mit einzigartigen Geschichten, Hintergründen, und Werten. Juden sind keine breiige, homogene Masse. Sie haben ihren eigenen Verstand und eigene Ansichten. Auch wenn sie alle ihre Religion gemeinsam haben, so leben gerade junge Juden sie sehr unterschiedlich aus. Sie finden ihren Platz in der Gesellschaft während sie ihren Glauben, ihre Kultur, und ihre Religion ausleben. Somit kann und sollte man das Judentum nicht verallgemeinern, da es eine sehr facettenreiche Religion ist.

Egal ob liberal oder orthodox, aschkenasisch oder sephardisch, sie gehören einem Volk an und werden alle gleichermaßen geliebt, geduldet, und auch gehasst.

Text und Bilder von Fanny Huth

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